Und als Dominic kommt, beginne ich echt zu zweifeln. Was, wenn es doch ein geheimes Netzwerk gibt, dessen Mitglieder seit Jahrtausenden mehr wissen als wir? Wenn es eine Verschwörung gibt, mindestens seit Jesus?
Ich bin am Flughafen in Denver, und alles ist so eckig. Ecken sind das Symbol Satans. Je eckiger, desto satanistischer. Irgendwo hier im Terminal, direkt unter meinen Füßen, ist ein gigantischer Bunker, der als geheime Tagungsstätte dient. Von dort aus werden hinterlistig Lügen in die Welt getragen, wie eben jene Legende, dass die Erde rund ist. Und die Mär des Kopernikus, dass die Erde um die Sonne kreist. Ich sehe mich um und versuche, jemanden zu entdecken, der eine Treppe hinabsteigt, aber vermutlich wäre das zu profan. Aber alle diese Leute hier könnten Luziferisten sein, denke ich, denn Denver ist ihre Hauptstadt. Es ist die eckigste Stadt der Welt, das habe ich gerade erst gelernt, und außerdem steht zwischen Denver und dem Flughafen der Satansbeweis schlechthin: ein Pferd. Ein riesiges Pferd mit rot glühenden Augen.
"Es gibt halt keine Schwerkraft"
Ich habe das Pferd allerdings nicht gesehen, obwohl ich lange gesucht habe, aber der Sachverhalt wurde mir am Tag zuvor ausführlich von Mike Hughes erklärt, eigentlich Fahrer von Limousinen, aber auch selbst ernannter "King of the Daredevils". Hughes hatte versucht zu beweisen, dass die Erde flach ist, indem er sich mit einer Mischung aus Seifenkiste und Marschflugkörper bis zur sogenannten Kármán-Linie in die Luft schießen wollte. Sie ist einhundert Kilometer von der Erdoberfläche entfernt und trennt die Atmosphäre offiziell vom Weltall. Hughes sagte: "Von dort aus kann man sehen, dass die Welt flach ist." Könnte man. Vielleicht. Mike Hughes hat es auf 572 Höhenmeter geschafft. Dann ist er abgestürzt. "Weißt du", hat Hughes gesagt, "wir beide haben offene Augen." Ich nicke. "Wir wissen Dinge." "Es gibt halt keine Schwerkraft." "Objekte fallen einfach. Das ist so." "Das ist erst der Anfang." "Vor allem ist es unser Geld." "53 Milliarden. Jeden Tag." Ich sage: "Nur damit die Nasa eine Geheimpolizei finanziert." Hughes sagt: "Um die Wahrheit zu unterdrücken." "Wie die Gestapo", sage ich. Hughes hat keine Ahnung, was das ist. Ich sage: "Hitler" und Hughes raunt wissend. Dann macht er eine kurze Pause und sagt: "Der verdammte Globist." "Genau."

Die Erde flach, die Sonne eine Art Taschenlampe
Ich bin in die USA nach Denver gereist, um die FE 2018 zu besuchen, die internationale Konferenz der Flacherde-Anhänger, der Flat Earther. Sie glauben …, nun ja, … dass die Erde eine Scheibe ist und die Sonne eine Art Taschenlampe, knapp 50 Kilometer groß und nur 5000 Kilometer entfernt. Ich glaube das ebenfalls, zumindest ein Wochenende lang.
An zwei Tagen werden auf der Konferenz Seminare gehalten und Workshops angeboten zu Themen wie: "Biblical Cosmology" und "Women in Flat Earth", bei "Flat Earth Activism" wird gelehrt, wie man Passanten überzeugt, und in "Talking to your Familiy about Flat Earth" geht es darum, wie man die Familie von der Wahrheit der flachen Erde überzeugt.
"Es ist einfach eine Tatsache"
Ich begründe das wie alle anderen auch. Kann keine Krümmung sein, man rutscht ja nicht ab, wenn man läuft. Der Horizont ist schließlich auch nicht gekrümmt und die Wolken sowieso nicht. Außerdem sieht vom Flugzeug aus alles flach aus, und Wasser findet auch immer eine Ebene. Im Glas, im See und natürlich auch im Ozean. Weil die Erde eben eben ist. So insgesamt betrachtet. In meiner Vorstellung und der meiner Kollegen gibt es auch Australien nicht, das ist eine britische Verschwörung, um zu vertuschen, dass Großbritannien seine Gefangenen früher einfach ins Meer geworfen hat (Bilder aus Australien werden auf einer Insel aufgenommen, die irgendwo vor Südamerika liegt).

"Es ist einfach eine Tatsache", sagt Matthew aus Wyoming zu mir. Ich stehe da mit Steven aus Maine, und wir finden ihn ein bisschen gut, denn Matthew ist schon länger dabei, ein alter Hase im Flat-Earth-Business, während Steven erst seit einem Jahr Anhänger ist und ich offiziell erst seit dem Sommer. Wir stehen im Konferenzsaal eines gesichtslosen Hotels am Flughafen, überall ist Teppich, es ist sehr dunkel, im Foyer plätschert ein Springbrunnen, und die anderen Gäste lachen uns aus, weil wir ein großes Schild um den Hals tragen, das uns als Flacherdler ausweist. "Das ist schwer zu ertragen", sagt James aus Florida, der kurz stehen bleibt. Er sagt, sein Vater glaube, er sei behindert im Kopf. Seine Geschwister hätten den Kontakt zu ihm abgebrochen. Er sagt, er könne aber nicht über die Wahrheit schweigen, und Steven sagt: "Das befreit aber auch." "Sie haben es einfach noch nicht erkannt", sage ich und klopfe James auf die Schulter. "Es tut so gut mit euch", sagt James. Er sagt: "Dabei wollte ich es am Anfang auch nicht glauben." Wir nicken.
Hillary Clinton? "Es ist ja ganz klar, dass sie Kinder schlachten lässt"
"Mittlerweile tut mir Hillary Clinton fast leid." Ich empöre mich. "Warum denn das?", fragt auch Steven. "Die ist doch auch bloß eine Marionette der Satanisten." "Nie im Leben", sage ich. "Es ist ja ganz klar, dass sie Kinder schlachten lässt", sagt James, und da laufen dann tatsächlich im Hintergrund Kinder vorbei wie auf Kommando. Sie tragen christliche T-Shirts und verteilen Dollarscheine mit Brad Pitt drauf und Eminem und John Lennon und LeBron James. Ich frage, was das soll, und das dumme Kind sagt: "Das sind Sünder." Ich denke, ich sollte das Kind ohrfeigen, aber streichele ihm über den Kopf und sage: "Halleluja."
Auf den Scheinen steht: "One Millionen Dollar Question. Will you go to heaven when you die?" Ausscheidungskriterium ist unter anderem: "Looking at women with lust." Verdammt, denke ich. Jetzt ist es ja auch egal. Ich sage: "Ich spucke auf sie", meine Hillary Clinton, und dann spucke ich auf den Teppich, was die anderen Flacherdler ekelhaft finden, es mir aber durchgehen lassen, weil ich ja Europäer bin und als solcher sowieso etwas merkwürdig. James sagt, dass man den geschlachteten Kindern den Hypothalamus entferne, und weil der das ganze Hormonzeug steuert, sei dieser Bissen Gehirn besser als Kokain. "Sagt man", sagt er schnell. Man müsse es aber frisch entnehmen und sofort verzehren. "Aber Hillary Clinton wird auch nur gezwungen." Ich spucke noch mal. "Pah", mache ich.

Und dann kommt Rasmus vorbei. Er arbeitet bei irgendeinem Fernsehsender in Schweden, und weil er mich so überzeugend findet, will er ein Interview mit mir machen. Ich erzähle davon, dass mein Vater findet, dass ich behindert im Kopf bin und meine Geschwister den Kontakt abgebrochen haben, aber dass ich nicht über die Wahrheit schweigen kann. Ich erzähle außerdem von meiner Bekehrung mithilfe von Youtube-Videos. Ich sage: "Es hat eine Viertelstunde gedauert", und ich glaube, dass Rasmus in dem Moment Angst hat vor mir. "Wie bei mir", sagt Matthew aus dem Hintergrund. "Und dabei habe ich Jahre gebraucht, um 9/11 zu entschlüsseln." Matthew sieht aus wie das Klischee eines Linken, er hat Dreadlocks und eine zerrissene Jeans, einen Ring in der Nase, und er trägt Chucks. Er breitet die Arme aus wie Jesus am Kreuz.
Er sagt: "Wir machen ein Experiment." "Alle", sagt er, und wir breiten die Arme aus. "Spürt ihr es?" Wir spüren nichts. "Eben." Er sagt, dass da doch kein Mensch glauben könne, dass die Erde sich mit 100.000 Stundenkilometern durch das All bewege. "Sonst würde man doch die Geschwindigkeit spüren." Steven sagt: "Wie beim Auto." Ich nicke. Rasmus filmt. Beweis geführt.
Alles nur gefälscht
Eigentlich war der Plan der JWD-Redaktion, dass ich den Flacherdlern auf ihrer Konferenz ein inszeniertes Video zeige, das eine Verschwörung aufdeckt: Ein Angestellter der chinesischen Raumfahrtagentur sitzt im Gefängnis, weil er die Wahrheit über die Raumfahrt erzählen will. Alles gefälscht. Aber das interessiert keinen, es ist hier zu normal. Außerdem wissen das ja schon alle: Es gibt keine Raumfahrt, hat es nie gegeben. Die Mondlandung ist von Stanley Kubrick inszeniert, der von der Trilateralen Kommission oder der US-Regierung oder den Bilderberg-Heinis oder Luzifer, so genau weiß man das nicht, dazu gezwungen wurde. "Warum heißt der Film wohl 'Eyes Wide Shut'?", fragt ein Referent namens Jeran in seinem Vortrag "Nasa and other space lies".
Jeran hat den "Jeranismus" erfunden, und das inspiriert mich so, dass ich ihn später anspreche. "Aber ich glaube so sehr, dass die Erde flach ist!" Ich bin ein bisschen hysterisch und fasse ihn am T-Shirt an. "Jeran", sage ich, "wie wird man so ein großer Forscher wie du?" Jeran hat nämlich herausgefunden, dass die Nazis nur so getan haben, als ob sie den Krieg verloren haben, weil sie auf den Mond wollten und das von Peenemünde aus nicht so gut geklappt hat. Er sagt, das ginge nicht, und da solle ich lieber mal richtig zuhören, denn auf dem Mond sei natürlich noch nie jemand gewesen. "Ich sag dir was", sagt er. "Nur eine Verschwörung hat Kubrick davon abgehalten, 'Eyes Wide Shut' am 21. Juli 1999 in die Kinos zu bringen. Dann wäre es nämlich genau 30 Jahre nach der Mondlandung gewesen." Ich muss das schnell googeln und weiß dann, dass der Film eine Woche früher ins Kino kam. "Weil sie es so wollten." Ich nicke. "Verstehst du? 'Eyes Wide Shut'." Er packt mich an der Schulter. Ich sage, dass ich verstehe und mache zur Verabschiedung den Gruß der Bewegung: ein flacher Arm vor die Brust gehalten. Daraufhin gebe ich einem kanadischen Sender ein Interview.
Und dann sehe ich Dominic zum ersten Mal. Er trägt eine Baseballmütze und einen Hoodie und ist der "Master of Ceremony" und Cheforganisator der Konferenz. Er moderiert die Workshops an und die Vorträge und sagt, dass er mit allen Referenten gut befreundet sei. Ich sehe ihn an, und von der Seite quatscht mich der dicke Michael an und sagt, dass alle denken, dass Dominic ein Querdenker ist, der die Wahrheit voranbringt. Schließlich denken ja alle, dass er die Konferenz absichtlich nach Denver verlegt hat, um dem Karma Satans in dessen Hauptstadt etwas Positives entgegenzusetzen. "Hat er nicht?" "Dominic ist ein Agent der Regierung."

Michael sagt, hier könne man sie besser kontrollieren. "Sieh dich um", sagt er. "Wenn du einen siehst, der kein Idiot ist, gib mir Bescheid." Er weiß: Die Leute hier hat die Regierung versammelt, um die Flache-Erde-Bewegung in den Augen der Bevölkerung lächerlich zu machen. Außerdem ist er sicher, dass alle Geld von der Regierung bekommen, weil sie Schauspieler sind. Er sagt: "Dominic schreibt sich ja auch so ähnlich wie Damien – und Damien ist Satans Sohn, das weiß jeder, der 'Das Omen' gesehen hat." "Fuck", sage ich.
"Jesus", sage ich, "man fällt runter"
Michael will den Eisring erkunden. Er hat die Non-Profit-Organisation "Exploring again" gegründet, die unbedingt in die Antarktis will, denn da war noch nie jemand. Alle Berichte darüber sind gelogen. "Weiß ich doch", sage ich. Ich sage außerdem: "Ich will mitfahren. Ich bin der Wahrheit verpflichtet." Michael sagt, er hat leider kein Geld, man müsse noch abwarten. Aber vielleicht sei das ja auch ganz gut, denn durch diesen Spion – er zeigt auf Dominic – würden nur Wahrheitssucher in den Eisring gelockt und dann von einer bewaffneten Nasa-Armee erschossen.
Ich sage, dass ich glaube, dass man nach dem Eisring in die Leere fällt. Einfach fällt, dann ist die Scheibe ja zu Ende. Michael glaubt das nicht. Er ist davon überzeugt, dass hinter dem Ring neues Land liegt. Er sagt: "Ein neues Amerika." Das aber von den Elitären geheim gehalten werde. (Dann gibt es noch die These, dass es mithilfe von irgendwelchen elektromagnetischen Schwingungen so ähnlich funktioniert wie bei Pac-Man: Man läuft bis zum Ende und kommt dann an der anderen Seite wieder raus, ohne dass man es merkt). "Unsinn" sage ich. "Es ist gibt neues Land", sagt Michael. "Nein." – "Doch." – "Warum willst du uns alle verwirren?" Ich werde etwas ärgerlich. Michael fängt dann auch an, die Kuppel über der Erde in Zweifel zu ziehen, in der die Sonne und der Mond hängen und die Sterne befestigt sind. "Das hat schließlich noch nie jemand gesehen." – "Spalter wie dich können wir nicht brauchen." – "Es gibt neues Land." "Jesus", sage ich, "man fällt runter." "Tut man nicht."
Flat-Earth-Merchandise und Bibel-Beweise
Und dann sage ich, er sei eh zu fett, um zum Eisring zu fahren, und gehe weg. Ich komme knapp 20 Meter weit, bis mir Russel aus Kalifornien eine Radioshow anbietet. "The European voice", soll die heißen, denn das gibt noch mal völlig neue Einblicke. "Die flache Erde aus der Sicht eines Kommunisten", sagt Andrea, die mitgehört hat. Wir stehen nämlich sehr nah an ihrem Stand. Sie ist Ausstellerin und verkauft Flat-Earth-Merchandise und Bibel-Beweise. Hinter ihr hängen T-Shirts, auf denen "Dome sweet dome" steht, und sie findet, dass Gott die Beweise für seine Existenz in der Erschaffung des Nichtglaubens versteckt hat, um die Gläubigen zu stärken. "In Kommunisten."

Ich sage: "Ich bin kein Kommunist. Ich spucke auf Kommunisten!", aber das Spucken hat sich herumgesprochen, und Russel und Andrea bitten mich, davon abzusehen. Russel sieht mich ein bisschen verliebt an und sagt ganz ernsthaft: "I feel I am looking into the eyes of my destiny or maybe my calling." Er fühlt sich bei mir zu Hause, sagt er, und das findet Andrea schwierig, denn Homosexualität ist die Steigerung von Mord, was die Verwerflichkeit angeht. "Das würde dem Builder nicht gefallen", sagt sie. "Wem?" "Dem Builder. Der, der alles erschaffen hat." Wenn man ein Haus hat, sagt sie, dann hat es ja auch jemand gebaut. "Aber schwule Kommunisten …"
Ich sage: "Verdammte Scheiße, ich bin kein Kommunist!" "Alle Europäer sind Kommunisten." Das könne man schon an der kostenlosen Gesundheitsvorsorge erkennen. Ich sage, ich zahle 700 Dollar Krankenversicherungsgebühr im Monat. "Oh", macht sie. "Aber wer sind denn dann Kommunisten? Die Briten?" Bestimmt nicht. "Spanier?" Keine Ahnung. Mehr Europäer kennt sie nicht. Ein bisschen verzweifelt sagt sie: "Irgendeiner muss es doch sein." "Es sind die Belgier", sage ich. Was Besseres fällt mir nicht ein. Die Belgier, sage ich, haben außerdem die Statue eines pinkelnden nackten Jungen mitten in ihrer Hauptstadt stehen. "Da sieht man’s", sage ich. Das ist so ein Skandal, das kann Andrea nicht glauben. Sie atmet laut aus. Russel bietet mir eine Radiosendung über Belgier an.
Es kommt mir so logisch vor
Und als ich zwei Tage später Dominic am Flughafen treffe, warte ich in der Sicherheitsschlange. So wie alle anderen auch. Dominic aber läuft einfach grinsend an uns vorbei. Die Sicherheitsfrau grüßt ihn namentlich. Ich sehe ihm hinterher, aber irgendwann biegt er um eine Ecke und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich denke: "Vielleicht geht er in den Bunker."
"Scheiße", denke ich. Was, wenn das geheime Netzwerk nicht aus Globalisten, Elitären und Luziferisten besteht und auch nicht aus der Trilateralen Kommission, der EU und der Nato, der UN und Obama und Merkel? Ich denke: "Die Flacherdler sind die Verschwörer." Es kommt mir so logisch vor.
Und dann muss ich durch die Sicherheitsschleuse. Auf dem Rückflug starre ich angestrengt aus dem Fenster. Ich kann beim besten Willen keine Erdkrümmung sehen.
Diese Geschichte stammt aus der neunten Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.