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Ballermann im Sauerland Die dollste Party? Sauftouristen überrollen jedes Wochenende dieses kleine Dorf

Für 2018 rechnet Willingen mit einem Bettenrekord; 1,1 Millionen Übernachtungen sollen es am Ende werden. Dabei kommt niemand, um zu schlafen.
Für 2018 rechnet Willingen mit einem Bettenrekord; 1,1 Millionen Übernachtungen sollen es am Ende werden. Dabei kommt niemand, um zu schlafen.
© Roman Pawlowski
Willingen. Ein Dorf in Nordhessen. 3062 Einwohner. Und 6000 Besucher. Jedes Wochenende. Gäste nennen es die dollste Party im Sauerland. Für Willinger ist es die Hölle.
Vor den inneren Augen entstand das Bild dieser Provinz in unberührtester Berglandschaft, in der die dunklen Wälder und die hohen Kuppen der Berge die Eindringlinge von außen abwehrten, wo die Zeit und die Zivilisation einen Teil ihrer Gültigkeit und ihrer Wertung verlor.

Der Mann, der sich um 1.39 Uhr an der Briloner Straße auf seine Sketcher-Turnschuhe erbricht, weiß vermutlich nicht, dass Willingen eine Adresse für den Qualitätstourismus sein will. Der Mann trägt ein Camp-David-Polohemd (Cycling Routes & Climbs) und ist Familienvater, im Portemonnaie, das der Jeans entfallen ist, lachen zwei Kinder. Der Mann hat ein Bäuchlein, das nach Eigenheim, Webergrill und Carport aussieht. Er weiß vermutlich auch nichts von der Wanderregion, die zertifiziert ist, vom Schieferbergwerk, den seltenen Alpinpflanzen der Hochheide und sieben Flutlichtpisten im Winter. Als ihn die Ortspolizei befragt, weiß der Mann nicht mal mehr seinen Namen.

Man möchte Thomas Trachte und Hermann Krumminga herbeitelefonieren, damit sie das ansehen. Aber es ist Nacht in Willingen, und auch wenn viele Menschen noch hellwach sind, schlafen einige doch in ihren Betten. Oder versuchen es. Anderthalb Stunden bis zur Sperrstunde.

Pizzabrötchen

Geselligkeit? Im Dorf tobt eine ewige Party

Die Wachen, das sind die Besucher. Die Schlafenden, das sind die Willinger. Sie leben ein bisschen aneinander vorbei. Und natürlich kennen Trachte und Krumminga solche Szenen sowieso zu Genüge, es bedarf keines weiteren Anschauungsmaterials. Vermutlich wären sie sich in diesem Fall sogar einig, obwohl sie sich eigentlich nie einig sind. Den kotzenden Familienvater, der von Freunden zur Ferienwohnung geschleift wird, fänden sie beide nicht so schön.

Thomas Trachte, Bürgermeister von Willingen, hat einen Begriff für die ewige Party in seinem Dorf gefunden: Geselligkeit. Die Geselligkeit, sagt er, ist ein gutes Segment, da kommen tolle Menschen, aber es ist auch ein Segment, das Probleme mit sich bringt. Hermann Krumminga vom Bürgerforum sagt: Willingen hat ein Bürgersteigproblem. Von Geselligkeit sagt er nichts.

Schräg gegenüber dem Familienvater liegt die Dorf Alm, es läuft "Rhythm of the Night" in der Coverversion von Fedde Le Grand. Zum dritten Mal heute Nacht.

This is the rhythm of the night
The night
Oh yeah
The rhythm of the night
This is the rhythm of my life
My life
Oh yeah

Wie man hier leben kann? Eigentlich ganz gut. Jedenfalls von Montag bis Freitag. Von Montag bis Freitag ist Willingen ein schickes, deutsches Dorf. 3062 Einwohner, die meisten anständige Bürger. Landkreis Waldeck-Frankenberg, nordöstliches Rothaargebirge, intakte Natur. Die Fichten stehen dicht am Berg, durch den Ort plätschert die Itter. Es gibt Bäckereien, einen Schuhladen, eine Apotheke. Das offizielle Wahrzeichen ist der Viadukt. Man muss das so sagen, offizielles Wahrzeichen, denn es gibt natürlich auch einige inoffizielle Wahrzeichen.

Das Willinger Brauhaus. Das Don Camillo. Das Vis à Vis, was in Willingen ab einskommafünf Promille Wies-a-Wies gesprochen wird. Leos Bierkeller. Siggi’s Hütte. Die Absturzkneipe Töff Töff. Mei, das Bavaria Stadl natürlich auch. Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd / Im Sauerland ist’s umgekehrt. So geht ein Sprichwort der Gegend.

Am Freitag geht es los. Sie kommen. Rollkofferarmeen.

Am Freitag geht es los. Klack-klack-klack. Gegen 15, gegen 16 Uhr. Klack-klack-klack. Sie kommen. Rollkofferarmeen. Rimowa-Armadas. Einige auch nur mit Rucksack. Mit leichtem Gepäck hinein, mit schwerem Kater hinaus. Es wird gelacht, gejohlt, vorgeglüht. Die Stunde, wenn das eine Willingen ins andere Willingen kippt, taugt zur anthropologischen Studie. Eben noch haben die Willinger ihre Hecken gestutzt, die Bürgersteige gekehrt und das Herbstlaub weggeblasen. Es war, als würde sich das Dorf ein letztes Mal seiner grundsätzlichen Ordnung versichern, bevor die unter die Rollkofferräder gerät.

Magazintitel JWD Heft 8
© Sebastian Mowka

Ein Artikel aus ...

... JWD. Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Die achte Ausgabe gibt es ab 15. November am Kiosk – oder hier.

Das war die Ruhe vor dem Sturm. Und jetzt ist das hier der Sturm auf die Ruhe. Taxi-Aktiv, Taxi Sinemus und Auto Hellwig bringen immer mehr Besucher. Die Hotels lassen eigene Shuttles zirkulieren. Ausgebucht, der ganze Ort. 388.348 Ankünfte 2017. 1.048.879 Übernachtungen. So viele wie Konstanz, Aachen oder Kassel auch haben. Kassel aber nur, wenn die documenta ist. Das ist das Dorf Willingen, an einem normalen Wochenende im August. Kein Event, kein Festival. Was dann?

Zehn Stunden, bevor sich der Familienvater erbricht, bevor der Rhythmus der Nacht besungen wird, die Türsteher vom Sir Henry einen Randalierer einsperren, Todtnauer Narren sich wundern, was das alles soll, bevor der Tequila fließt und der Wodka sowieso, bevor ein Mann seine Frau betrügt und eine andere Frau schreit, sie möchte Opas vögeln, zehn Stunden davor sitzt Bürgermeister Thomas Trachte in der Freiwilligen Feuerwehr. Mit seinen Referenten war er auf Wanderschaft, das ist ein jährliches Ritual. Nun findet die Nachfeier statt. Trachte, der üppig erklären kann, wie vielfältig und schön Willingen das ganze Jahr abzüglich der Wochenenden ist, an 261 Kalendertagen also, muss ein bisschen lauter reden, weil seine Mitarbeiter ein bisschen lauter feiern. Das Buffet ist leer gegessen.

Wir haben, sagt er, ein Konzept,  wie Willingen langfristig aussehen soll. ­Welche Trends sehen wir? Schwerpunkte sind naturnaher Aktivurlaub, Familien, Erholungstourismus, tja, und dann haben wir den Wochenendtourismus, der uns wirtschaftlich sehr wichtig ist. Die Geselligkeit.

Willingen braucht die (verhasste) Party

Trachte, gelernter Verwaltungsfachangestellter, vormals auch Kurbetriebsleiter. Man sollte meinen, es gebe keinen Besseren für dieses Dorf, aus dem er kommt und dem er treu geblieben ist. Trachte, 14. Bürgermeisterjahr als Parteiloser, wirkt nur betroffen, wenn man ihn zum Partystandort Willingen befragt. Da ist es wieder, das ewige, schadhafte Thema. Man kann über die Party besser reden als über zertifizierte Wanderpfade, das weiß er. Aber es ist ja auch so, dass man über die Party reden muss, weil die Frage im Raum steht, wie lange das noch so weiterläuft. Willingen braucht die Party, aber viele Willinger hassen sie.

Trachte sagt, der Exzess sei kein Willinger, nicht mal ein deutsches Problem. Wenn Sie starke Leistungen bringen, kriegen Sie auch Randgruppen, die keiner will, die aber ins Bild springen, sagt er. Vor Ewigkeiten hat Trachte mal für eine Initiative überlegt: Kann man chirurgisch eingreifen, den Wochenendtourismus behalten, ohne dass er Anwohner stört? Trachte fand als Bürger keine Antwort, und er findet heute als Bürgermeister immer noch keine. Er gibt das ehrlich zu. Und man hat nicht mal das B-Wort in den Mund genommen. Ballermann.

Die Generation 40+ hat übernommen

Aber um 18 Uhr ist der Kellner im Vis à Vis betrunkener als die Gäste, was daran liegt, dass er mit allen Gästen Kurze trinkt. Frauengruppen, die loslaufen, sagen: Fix, bevor die Typen losziehen. Aber die Typen sind schon da, und da meint da, wo Bier gezapft wird. Also fast überall entlang der Briloner Straße, der Hauptmeile. Gerade haben Kegelklubs Saison. Skattreffs. Damenrunden. Die Generation 40+ hat übernommen von den Junggesellenabschieden im Frühsommer.

Und wenn der erste Kunstschnee auf die Pisten weht, beginnt das Après-Ski. Im Februar dann Weltcup-Skispringen an der Mühlenkopfschanze. Und im April das Spring-Festival. Im späten Frühjahr die Fußballklubs auf Saisonabschlussfahrt. Im Mai Mountainbike-Woche, im Juni Viva! Willingen mit 20.000 Schlagerfans. Und Harley-Treffen, Alphornmesse, Mühlenkopf Kraxler. Und so weiter. Und bloß fort. Denken viele Willinger, wenn die Events anstehen, aber sie denken auch, das Problem sind ja gar nicht die Events. Auf Events kann man sich vorbereiten, die kann man planen, vielleicht sogar ertragen. Acht, neun, zehn Wochenenden im Jahr. Wenn es denn sein muss. Aber jedes Wochenende im Jahr? Muss das sein?

Willinger, was stört euch? Antwort: Betrunkene Horden

Nein, sagen stellvertretend für viele Willinger Hermann Krumminga und Carsten Schneider. Die Vertreter vom Bürgerforum trinken im Willinger Hof Kaffee. Vor fünf Jahren haben sie das ­Forum gegründet, vorausgegangen war eine Briefbefragung der Haushalte: Willinger, was stört euch? Antworten: Anwohnerbelästigung. Kriminelle Energie. Betrunkene Horden im Kurpark. Lärmbelästigung. Drogenhandel. Prostitution.

419 Straftaten im Jahr 2017. 57 Mal Körperverletzung, 164 Diebstähle, 26 Sachbeschädigungen. Sonstige Delikte: 121. Meldet die Polizei aus Korbach, die für den Ort zuständig ist. Die Häufigkeitszahl liege deutlich über dem Durchschnitt des Landkreises, meldet sie auch. Angeblich bekommt, wer nachts bei der Korbacher Polizei anruft, schon mal zu hören: Ihr wolltet’s doch so in Willingen, jetzt beschwert euch nicht! Aber wer wollte das so? Es kommt eins bei’s andere. Noch so ein Sprichwort der Gegend.

Wobei die Prostitution nicht in Willingen stattfindet, sondern in dunklen Häusern am Ortsrand. Angeworben wird im Ort, in Bars, Klubs, Diskotheken. Bock auf Ficki-Ficki? Da können manche nicht mehr Nein sagen. Müssen sie auch nicht, weil die Gruppen gleichgeschlechtlich geschlossen anreisen, Ehefrauen und Ehemänner werden zu Hause geparkt.

Und was in Willingen passiert, bleibt in Willingen. Manche tragen den Spruch auf dem T-Shirt in die Nacht. Wenn du einen Buchstaben bei Willingen streichst, johlt ein Barkeeper zwischen zwei Spritz, dann steht da Willigen, und um die geht es hier, willig sind hier nämlich alle.

Den Partytourismus unter Kontrolle bringen

Krumminga und Schneider rühren in ihren Tassen. Sie haben ins Dorf eingeheiratet, aber selbst wer einheiratet, muss Position beziehen. Das Dorf lebt vom Partytourismus, ja, wissen wir, sagt Schneider. Krumminga sagt: Abschaffen wollen wir den nicht, nur unter Kontrolle bringen. Seit das Bürgerforum hinschaut, läuft die Party nicht mehr widerstandslos durch Willingen. Sie machen Umfragen, erstellen Rechtsgutachten, setzen sich in Gemeinderatssitzungen. Auch mit Trachte haben sie oft diskutiert, in seinem Büro im Rathaus. Sie glauben, der Politik lästig zu sein. Den Gastronomen und Klubbetreibern sind sie es definitiv.

Es wurde eine Ortspolizei für die ­Wochenenden eingerichtet, auch auf ihr Drängen. Aber das reicht hinten und vorne nicht, sagt Schneider. Man tue sich schwer, dem Partytourismus die Grenzen aufzuzeigen, zu sagen, Gast, du bist willkommen, aber wenn du über die Stränge schlägst, wird’s teuer. Schneider war in Hvar in Kroatien im Urlaub. Da stehe am Anfang der Fußgängerzone ein Schild, erzählt er: Ungebührliches Verhalten kostet 700 Euro. Diese Strafhärte in Willingen fände Schneider ganz gut.

Es sind kleine Siege, die das Bürgerforum erringt. Zum Beispiel, dass sie den Umbau des Ruhrkohle-Heims in ein Low-Budget-Hotel verhinderten. Problematisch ist, dass viele Willinger, als es losging mit der Party, gar nicht abgeneigt waren. Touristen! Geld! Die Anwohner bekämpfen eine Entwicklung, der sie zu Beginn applaudierten. Es ist aber auch schwer vorstellbar, wie ein kleines Dorf so groß werden kann. 6000 Leute jedes Wochenende. Konnte keiner ahnen.

Mama Laudaaa! Mama Laudaaa!

Wie heißt die Mutter von Niki Lauda? Mama Laudaaa! Mama Laudaaa! Das ist der Hit hier. Almklausi und Specktakel. Die Eins am Ballermann, deshalb auch auf eins in Willingen. Von einem Balkon grölt eine Mittfünfzigerin mit Megafon: Alle geilen Frauen mal herhören, jetzt wird gesoffen! Da hat sie recht, gesoffen wird ab 22 Uhr wirklich. In der Dorf Alm tanzen sie auf den Tischen, im Sir Henry liegen sie schon drunter. Nur die Todtnauer Bürsten- und Besenbinder senken den Altersschnitt, und alles, ruft die Lauteste, weil einer von uns, sie zeigt hinter sich, gesagt hat, hier kann man feiern. Willingens Ruf hallt bis in den Schwarzwald, weiter noch. In die Niederlande, nach Belgien. Sogar bis England.

Die Bürsten- und Besenbinder müssen jetzt entscheiden, ob sie weniger trinken als alle, weil ihnen alle zu alt sind, oder ob sie mehr trinken, um die alle  zu ertragen. Als gesunde Karnevalszunft entscheiden sie sich für Zweiteres. Ihre Spur verliert sich im Schnaps.

Als ein Volltrunkener in Funktions­jacke hinter die Theke taumelt und Barmänner umschubst, endet diese Nacht, von der sich die Besucher erzählen werden, sie sei wie keine sonst gewesen, ­dabei war sie wie jede Freitagnacht in Willingen auch. Die Security ringt den Taumelnden im Getränkekeller zu Boden. Ich muss groß, das tut weh, hört man ihn schreien, dann schließt sich die schwere Kellertür.

Es gibt keinen Kater, weil alle weitertrinken

Aber am Samstag gibt es in Willingen keinen Kater, weil alle weitertrinken. Nur der Heiland in der Kirche St. Augustinus guckt ziemlich verkatert von der Wand. Die Menschen pilgern hoch zur Ettelsberghütte. Zu Siggi. Dem Heiland der Party bei Tag. Dabei müssen alle am Sauerland Stern vorbei, und das ist toll, denn mit dem Sauerland Stern hatte alles begonnen. Späte Achtziger, frühe Neunziger. Wie ein Raumschiff steht das Hotel zwischen den Birken. Verschachtelte Gigantomanie, mehr als 500 Zimmer. Der Stern hat damals gezielt die Feiernden umworben, die Junggesellenabschiede, die Fußballklubs. Und irgendwann ist der Stern ausgestiegen, weil es seinen Betreibern zu heftig wurde. Heute ist das Raumschiff ein seriöses Kongresshotel, das Feiernde bei der Buchung aussiebt. Als man für die Reportage anfragt, kommt die Antwort: Wir nehmen von jeder Berichterstattung Abstand. Wir untersagen vorsorglich auch das Anfertigen von Ton-, Bild- oder Filmmaterial auf unserem Gelände.

Der Stern möchte nichts mehr zu tun haben mit der Party, die er selbst gestartet hat. Siggi von der Heide ist nicht so wählerisch. Die Leute fahren halbnüchtern hoch und kommen volltrunken runter, hat Krumminga gesagt. Bei Siggi bekommt man die Bestätigung für das Partyimage, hat Trachte gesagt. Wie viele Leute sind das hier oben? 2000? 3000? Alle 6000, die nach Willingen gereist sind?

Die Hochheide, des Bürgermeisters Lieblingsgegend, aber sicherlich nicht  an einem Samstag, wird von Siggis Gästen plattgesessen. Sie löffeln Siggis Erbsensuppe aus Halblitergläsern, darin schwimmen Siggis Bockwürste. Siegfried von der Heide schenkt ein, schenkt aus, trinkt Schnaps, so wenig wie möglich, so viel wie nötig, ruft er. Grandioses Pensum für einen 77-Jährigen, der, wäre er  in ein anderes Leben geboren worden, Rentner sein müsste. Aber Siggi wurde für diese Hütte geboren, und auf dieser Hütte will Siggi auch sterben.

Er sagt, er verbiete Junggesellen­abschiede und Verkleidungen, aber in der Hütte stehen Schneewittchens, Super Marios, Borats, Wonder Women. Guido steht da auch, ein Hase in Zartrosa, der bald 45 wird und seit 30 Jahren nach Willingen kommt und seine Freunde verloren hat, ein Junggeselle ohne Abschied. Guido sagt, in Willingen findet man sich immer wieder.

Siggi hat eine rheinländische Herrengruppe in den abgesperrten VIP-Bereich geladen. Die Senioren, Jahrgang 1935, waren mal im Fußballverein, waren mal ein Schützenverein, sind jetzt nur noch vereint, verheiratet auch, ein paar schon verwitwet. Siggi schenkt ihnen sein Feuerwasser aus. Manche merken nicht, dass der Schnaps entzündet ist, sie verbrennen sich übel. Siggi schüttelt den Kopf. Manchmal versteht er das alles auch nicht hier oben. Eigentlich hat er vor einiger Zeit aufgegeben, das überhaupt verstehen zu wollen. Die Frau, die auf die Theke klettert, dem Senior entgegen, der ihr Opa sein könnte. Sie küssen mit viel Zunge. An ihren Beinen zieht die Security, runter, rufen die Schränke, an seinen Beinen zerren seine Rheinländer, tu das nicht, Peter, rufen sie, du machst dich unglücklich. Nur Peter sieht nicht unglücklich aus.

"Willingen – Have it all!"

Prägt ein Dorf die Menschen, oder prägen die Menschen das Dorf? Kann sich ein Dorf aussuchen, wie es ist? Und kann es, wenn es einmal was geworden, auch wieder was anderes werden? Um 16.30 Uhr schließt Siggi seine Hütte zu. Dann zieht die Menge zur Seilbar, 250 Meter tiefer. Und wenn die Seilbar schließt, zieht die Menge in den Ort, zwei Promille später.

Thomas Trachte hat gesagt: Wir erarbeiten Tourismusprodukte, die wir am Markt anbieten. Hermann Krumminga hat gesagt: Thomas Trachte tut alles ­dafür, dass der Ort wirtschaftlich erfolgreich ist, aber geht es denn nur darum? Trachte sagt: Auf den Ort bin ich stolz. Krumminga sagt: Wenn du jedes Wochenende Halligalli hast, denkst du irgendwann, warum tu ich mir das an?

Manche Willinger ziehen weg aus Willingen, weil sie es nicht mehr ertragen. Willingen schrumpft. Und auf der Meile beginnt eine harte Nacht. Da liegt auch eine biernasse Tourismusbroschüre, die den Ort bewirbt. Mit Slogan. Willingen – Have it all!

Diese Geschichte stammt aus der achten Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.

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