Sonntag, 4. Februar 2018, Mars-Landung.
Mein Shuttle in die Zukunft steckt fest. Der österreichische Astronaut am Steuer des Geländewagens hat einen Fehler gemacht, den man in der Wüste nicht machen darf. Er hat im tiefen Sand gebremst. Hätte er wissen können, findet eine Österreicherin neben mir auf der Rückbank. Schließlich wüssten gerade Österreicher, wie man im Schnee Auto fährt, und da gelten die gleichen Regeln: Man bremst nicht. Ich komme nicht mehr dazu, sie zu fragen, ob sie es mit der Einstellung unfallfrei durch den Winter schafft, denn Field Commander Gernot Grömer steht unter Zeitdruck. "Welcome to Mars!", begrüßt er uns in der Kepler-Station kurz nachdem unsere Raumfähre wieder freigebuddelt ist. "Wenn wir in 20 Jahren hinfliegen wollen, ist das technologisch gesehen übermorgen. Jede Minute zählt." Erst recht, wenn die meiste Zeit und Fracht einer Mars-Reise für "Housekeeping und Survival" draufgingen und nur zehn Prozent für die Erforschung blieben.
Der Mars im Oman
Unsere Reise zum Roten Planeten startete bei Sonnenaufgang auf der Erde. An der Sultan-Qabus-Moschee in Salala, einer Küstenstadt in Omans Südwesten. Sie dauerte one-way auch keine neun Monate, sondern bloß vier Stunden. In einem klapprigen Militärkleinbus, der uns einige Kontrollposten später irgendwo in der Dhofar-Wüste absetzte. Die letzten Meter schaukelten wir dann in Jeeps mit Allradantrieb in das Containerdorf. Sand, Sand und noch mehr Sand, ein paar gelbe Hügel aus Sand, ab und an ein Stein. Nur der Wind macht die Hitze erträglich. Die weiße Domkuppel des Habitats strahlt in der toten Landschaft wie ein Zeichen: Der Mensch ist auch hier. Wo genau, wissen wir nicht. Aus Sicherheitsgründen bleiben die GPS-Koordinaten geheim. Die jemenitische Grenze ist 250 Kilometer entfernt. Universitäten und Raumfahrtagenturen aus 25 Nationen sind an der Expedition beteiligt, eine gute Zielscheibe für Terroristen. Omanische Soldaten bewachen das eingezäunte Lager.

3000 Kilometer Suche in der Wüste
Das arabische Sultanat und Österreich kommen einem nicht sofort in den Sinn, wenn man an die unendlichen Weiten des Weltalls denkt. Aber es ist kein Zufall, dass wir in der Dhofar-Wüste stehen und nicht in Utah, Marokko oder Israel, wo die anderen großen Mars-Simulationen laufen. "Bis hin zur Sand- korngröße ähneln die Eigenschaften dem Mars am ehesten", erklärt Grömer. Topografisch, mineralogisch, meteorologisch. Der 43-Jährige ist Direktor des österreichischen Weltraum Forums (ÖWF), das die Simulation "Amadee-18" veranstaltet. Zwei Jahre hat sie der Astrophysiker geplant, hat Satellitenbilder und Wetterkarten studiert, Sicherheits- und Logistikberichte gewälzt. Er ist 3000 Kilometer in Israel und Oman kreuz und quer durch Wüsten gefahren, hat sich tagelang von Kamelfleisch ernährt, bis die passende Stelle in Dhofar gefunden war. Oman hat zwar Bildung zum Erdöl des 21. Jahrhunderts erklärt. Dass aber immer noch genug Erdöl übrig ist, um sämtliche im Sultanat anfallenden Kosten für das Projekt zu übernehmen, hat auch geholfen.
Mars-Mission in der Wüste: Proben für den Roten Planeten

Ernährung? Vegan, wie auf dem Mars
Drei Wochen simuliert eine 15-köpfige Feld-Crew isoliert von der Außenwelt das Leben und Experimente auf dem Roten Planeten, um bemannte Missionen dorthin vorzubereiten. Physiker, Ingenieure, Techniker, Quartiermeister, Ärzte und fünf sogenannte Analog-Astronauten. Sie machen, was auch echte Astronauten tun, nur auf der Erde. "Wir sind für jeden Fehler dankbar. Wenn er bei uns passiert, dann passiert er auf dem Mars hoffentlich nicht mehr", sagt Grömer. Beim Abendessen im Dinner-Zelt schaufeln sich die Marsianer dann haufenweise Jalapeños auf ihre Teller. Statt 60 großer Gläser Paprika wurden 60 sehr große Gläser Chilis geliefert. Die müssen weg, zwei pro Tag. Ansonsten sind die Mahlzeiten streng rationiert, den Ernährungsplan hat eine Uni entwickelt. Vegan, wie auf dem Mars. Ein halbes Fläschchen Orangensaft zum Frühstück, vor jedem Nachschlag müssen wir fragen. Vieles dreht sich um die kleinen Probleme, die nicht am Schreibtisch auf der Erde auftauchen, sondern immer erst dann, wenn es ums Überleben geht. Das erste Ziel, wenn man ganz nach oben will, einen neuen Planeten besiedeln.

Hinter dem Zelt steckt Husky, der autonome Mars-Rover, im Sand fest. Sein GPS-Signal verstummt. Die Sterne am Himmel über ihm strahlen heller, als ich es je zuvor gesehen habe.
Montag, 5. Februar 2018, Mars-Erkundung.
Ein Pfiff schrillt durch die Stille im Camp. Wir traben los ins Ops, den Kommandocontainer, Crew-Chef Grömer ruft. Auch ohne Trillerpfeife merkt man gleich, wer auf dem Mars das letzte Wort hat. Immer auf Englisch, Amtssprache im All. Es gibt wenige Menschen, die sich ehrlich und ansteckend begeistern für das, was sie tun, der Österreicher gehört dazu. Mit seiner Glatze, dem Hang zu Zitaten und in der rotschwarzen Uniform erinnert er an Captain Jean-Luc Picard aus Star Trek. Ich bewundere, wie er nach der Lagebesprechung noch würdevoll zum Abschluss "Meeting adjourned!" in die Runde ruft, obwohl es vor allem darum ging, bitte wirklich kein Toilettenpapier ins Klo zu werfen. Noch steckten die Rohre das weg. Aber in zwei Wochen, wenn wir Besucher schon längst wieder in Berlin und Barcelona den Vorzügen der menschlichen Erdzivilisation frönten, bekämen die Mars-Camper ein Problem. Und es wäre auch nett, wenn wir Kurzzeitgäste nicht duschen würden. Langes Schweigen.
Manchmal wirkt es wie ein Geländespiel von Trekkies
Grömer macht weiter. Die omanischen Soldaten hätten angemerkt, dass die Quad-Fahrer etwas sehr schnell durch die Wüste heizten, gibt er ernst bekannt, muss dann aber doch grinsen, als seine Astronauten antworten: "Adrenaline caught us. We will adapt." Das ZDF-Fernsehteam hat sich bereits angepasst und umbenannt in Sierra Sexy, Major Tom und Captain Future. Manchmal wirkt das Ganze wie ein Geländespiel von Trekkies. Aber damit täte man dem ÖWF Unrecht, tatsächlich spielt es in der Marsforschung ganz vorn mit. Zwar ohne die Mittel einer staatlichen Raumfahrtagentur. Dafür schnell, unkompliziert, unabhängig von politischen Zwängen. "Wenn die Nasa bei einer Frage nicht weiterkommt, heißt es immer öfter mal: Gentlemen, let’s ask the Austrians", erzählt Grömer. Und ja, darauf ist er schon etwas stolz. Amadee-18 ist seine zwölfte Expedition. Mit viel Enthusiasmus und wenig Expertise habe vor 20 Jahren alles begonnen, als er im Raumfahrer-Brachland Österreich das Forum gründete. Heute kann er einen Teil seiner Doktorarbeit durch die Wüste stapfen sehen: den Mars-Anzug. Eigentlich ein kleines Raumschiff. So teuer wie ein Ferrari. Jahrelang weiterentwickelt. Einzigartig. "Unser Game-Changer", sagt Grömer. Optisch erinnert er leider sofort an den ersten, einzigen und recht trashigen Perry-Rhodan-Film "SOS aus dem Weltall" von 1967.
55 Kilo Ausrüstung durch die Wüste schleppen
Drinnen steckt die Berlinerin Carmen Köhler und schwitzt, wie sie noch nie geschwitzt hat. Die Alubeschichtung glitzert in der Mittagssonne. Das Exoskelett an ihren Beinen und Armen simuliert den Druck, jede Bewegung fällt schwer. Sie schleppt 55 Kilo Ausrüstung durch die Wüste. Wenn sich die 37-Jährige bückt, kommt sie aus eigener Kraft kaum wieder hoch. Obwohl sie monatelang trainiert hat. Die Sicht nach unten ist eingeschränkt. Ein Display im Helm zeigt ihr wichtige Parameter an. Allein zwei Stunden dauert es, den Anzug anzuziehen, zwei Helfer sind dafür nötig. Ein Bauchgurt überträgt ihre Vitalwerte an eine Ärztin im Ops. Halbstündig beantwortet Köhler medizinische Fragen auf einer Skala von eins bis sechs. Heute sagt sie zum ersten Mal in ihrer Karriere zweimal "drei" statt "eins": Sie hat Hunger und ihr ist heiß. Zwar kühlt ein Ventilator in ihrem Rucksack, trotzdem klettert das Thermometer fast auf 37 Grad. Ihre juckende Nase reibt sie am "Razzle Frazzle", ein kratziger Stoffstreifen im Helm. Die Ärztin ist kurz davor, den Einsatz abzubrechen. Noch ein letztes Experiment. Wie in Zeitlupe schwingt Köhlers spanischer Astronautenkollege einen schweren Hammer und schlägt zu. Die Wüste bebt. Vor allem die Metallplatte, auf dem er landet. Falls die Schallwellen auf Wasser treffen, würden das die Geofone auf- zeichnen, die Köhler der Reihe nach in den Sand gesteckt hat. Unwahrscheinlich in der Wüste, nicht aber auf dem Mars. 5100 Kilometer entfernt bekommt das Mission Support Center in Innsbruck die Daten übermittelt. Mit zehnminütiger Zeitverzögerung. So lange, wie ein Funkspruch zur Erde dauern würde. Die Marsianer haben an alles gedacht.

"Es ist Glück pur"
"Heute habe ich gelitten", sagt Carmen Köhler nach ihrem Außeneinsatz im Schatten eines Containers. "Aber es ist Glück pur. Schon jetzt will ich unbedingt wieder rein in den Anzug." Eigentlich ist Köhler gelernte Friseurin und Visagistin. Doch sie sehnte sich nach den Sternen. Am liebsten möchte sie auf den Mond. Der Mars wäre auch okay. Sie legte Schere und Schminke beiseite, studierte Mathe und Meteorologie, promovierte in Physik der Atmosphäre, schaffte das harte Auswahlverfahren, um sich zur Analog-Astronautin ausbilden zu lassen. Sie hat einen Mann und zwei Kinder. Drei Jahre wäre sie weg, wenn sie zum Mars fliegen würde. Würde sie? "Zeit ist relativ. Wenn man überlegt, wie lange die Entdecker früher über die Weltmeere gesegelt sind. Wäre ich unheilbar krank, würde ich es machen." Auf meinen Einwand, dann erst recht nicht in ein Raumschiff zu steigen, sondern seine letzte Zeit auf Hawaii zu verbringen, mit Menschen, Luft, Drinks und Sonne, sagt sie: "Glück ist relativ." Pause. Am Horizont feuern zwei Raffinerien wie kleine Bunsenbrenner Flammen in den Himmel. "Also, nach Hawaii möchte ich auf jeden Fall auch noch mal."
Sonnenaufgang über dem Camp
Am nächsten Morgen klettern die Fotografen und Kameramänner sehr früh auf den kleinen Aussichtsturm neben den Wohncontainern, um das Camp bei Sonnenaufgang einzufangen. Tolle Atmo, sehr stimmungsvoll. Die Marsianer verschlafen das. Bis auf Judith Kümmel. Einsam sammelt sie Plastiktüten ein, die der Wüstenwind in den Stacheldrahtzaun geweht hat. "Des schaut ned schee aus." Im echten Leben arbeitet sie als Verkehrspilotin. So wie fast alle anderen hat sie sich Urlaub genommen und ist ehrenamtlich hier. Manche wurden freigestellt, weil die Mars-Erfahrung beruflichen Wert für sie hat. Sie sind Astronautenausbilder, Raumfahrtingenieure, Flugkontrolleure für die ISS. Auch viele der Experimente haben einen Nutzen für die Erde: Ob Gemüseanbau in der Wüste, Wegfahrsperren für Lkws, sobald die Pupillen der Fahrer müde werden, der 3D-Druck von Ersatzteilen, Stressbewältigung oder genauere Wettervorhersagen. Mars-Forschung macht’s möglich.

Der Mars: Kein Ort, an dem man freiwillig Urlaub machen würde
Besonders einladend ist der Rote Planet nicht. Sondern oft beißend kalt bei Temperaturen zwischen +35 und −140 Grad Celsius. In der dünnen Atmosphäre würden wir sofort ersticken, ihr Druck beträgt nur ein Hundertstel des Luftdrucks auf der Erde. Es gibt auch kein Magnetfeld, um Sonnenstürme und kosmische Strahlung abzuwehren. Besucher dürften ziemlich schnell an Krebs sterben. Man braucht zumindest einen guten Raumanzug und sollte sein luftdichtes Schlafzimmer gleich nach Landung tief im Boden vergraben. Dessen blutrote Farbe stammt vom verrosteten Eisenanteil. Ihr verdankt der Planet wohl auch seinen Namensgeber, den römischen Kriegsgott. Der Mars ist in etwa halb so groß wie die Erde, hat aber mit 22 Kilometern bis zum Gipfel den höchsten Berg im Sonnensystem, den Vulkan Olympus Mons. Und zwei kleine Monde: Phobos und Deimos, griechisch für Furcht und Schrecken. Sie sehen aus wie schrumpelige Kartoffeln. Kein Ort, an dem man freiwillig Urlaub machen möchte. Ein Abenteuerspielplatz für Pioniere.
"Zu spät geboren, um die Ozeane zu entdecken, zu früh für die Galaxien"
In spätestens 100 Jahren sollten wir ihn bewohnbar gemacht haben. So lange gibt uns zumindest Stephen Hawking, bis ein Asteroideneinschlag, ein Killervirus oder der Mensch die Erde erledigt hat und wir ins All flüchten müssen. Neue Jagdgründe zu erobern, verändere auch die Sicht nach innen auf die Welt, die Wertschätzung für die Erde, sagt ÖWF-Direktor Grömer. "Jede Generation sucht ein identitätsstiftendes Ereignis, die Mondlandung war so eins." Der Mars ist seine Mondlandung, sein Motor, das leere Kapitel im Geschichtsbuch. Er spricht jetzt sehr schnell, als könne er die Ankunft damit beschleunigen. "Der Mars ist in Reichweite. Within reach. Within us." Dann zitiert er noch Herman Melville und Antoine de Saint-Exupéry und seufzt tief. "Ach, zu spät geboren, um die Ozeane zu entdecken, zu früh für die Galaxien!" Draußen im Camp fällt der Dieselgenerator aus, und das aufblasbare Habitat sackt langsam in sich zusammen. Die Luft ist raus.
Mittwoch, 7. Februar 2018, Rückkehr zur Erde.
Der Super Bowl am Sonntag ist komplett am Mars-Camp vorbeigegangen. Aber als der SpaceX-Chef Elon Musk nachts um 0.45 Uhr seine "Falcon Heavy" ins All schießt, steht der Livestream von Cape Canaveral in den Kommandocontainer. An Bord der Trägerrakete: ein roter Tesla Roadster, in dem David Bowies "Space Oddity" in der Dauerschleife spielt und Starman am Steuer sitzt, eine Puppe im Raumanzug. Als dann die beiden Boosterraketen synchron auf die Erde zurückschweben und sanft aufsetzen, reißt es die Forscher von ihren Stühlen. Sie jubeln noch lauter als die TV-Moderatoren. Einige schütteln ungläubig die Köpfe. Touchdown Elon Musk, er spricht von der Menschheit als multi-planetarer Spezies. Für einen kurzen Moment sind wir in der Zukunft angekommen. Aufbruchstimmung weht durch die Wüste. Zwei Welten, eine Sonne. Der Mars ist ganz nah.
Zeit für die Erde
Am Morgen danach erinnern nur noch meine Füße an die eines Marsmännchens, nach drei Tagen ohne Dusche leicht grünlich und aufgequollen. "Kann man mal machen", sagte Fotograf Röder zu der späten Idee, unsere Wanderstiefel über Nacht rauszustellen. Er sieht auch nicht mehr ganz frisch aus, zieht sich in letzter Zeit immer öfter mit seiner Kamera auf einen Container zurück und kichert. Zeit für die Erde. Zum Abschied klauen wir noch einen ganzen Orangensaft aus dem Kühlschrank und stellen die ewige Frage nach der Pinkeltechnik im Raumanzug. Geduldig erklärt uns Astronautin Carmen Köhler ihre Windeln und das Kondomurinal für die Männer. Die Nasa-Raumfahrer würden Schweiß und Urin inzwischen recyceln und trinken. "Hätte ich kein Problem mit. Ihr?" Wir müssen schlucken. Auf den Tischen stehen kleine Lautsprecher. Sie nehmen alle Gespräche auf und senden sie zur Stimmenanalyse an die TU Graz, "um Mechanismen der psychologischen und physiologischen Anpassung oder Fehlanpassung in extremen oder stressigen Umgebungen zu untersuchen". Ich habe genug vom Mars, und der Mars hat genug von mir.
Zurück in Salala, zurück auf der Erde. Als ich letzte Woche hier landete, fühlte ich mich fremd. Omanische Männer flanieren in ihren Gewändern und mit Kopftüchern durch den Hotelinnenhof. Verspiegelte Pilotenbrillen im Gesicht, Rolex an den Armen, den traditionellen Krummdolch hinter dem Gürtel. Eine Frau fährt vollverschleiert ihren Einkaufswagen gegen die Tür eines Supermarkts. Weihrauch hängt in der Luft, zieht bis auf meinen Balkon. Der Muezzin ruft zum Abendgebet, das Meer verschwindet langsam in der Dämmerung. Ich gehe duschen. Heute fühlt sich Salala nach Heimat an.

Diese Geschichte stammt aus der aktuellen Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu finden auch hier.
