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Anklage gegen Gil Ofarim Antisemitismus oder Verleumdung? Bitte einmal nachdenken vor dem Aufregen

Ein junger weißer Mann mit halblangen, dunkelblonden Haaren und Kinnbart schaut mit schräg gelegtem Kopf in die Kamera
Auch für Gil Ofarim gilt die Unschuldsvermutung. Das sollte ein Ministerpräsident wissen
© Gerald Matzka / DPA
Nach der Aufregung um den Antisemitismus-Vorwurf von Gil Ofarim gegen einen Leipziger Hotelmitarbeiter fördert Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer nun die Empörungswelle gegen den Musiker. Dabei täten alle gut daran, erst einmal abzuwarten.

Am 4. Oktober hat der Musiker Gil Ofarim Antisemitismus-Vorwürfe gegen Mitarbeiter eines Leipziger Hotel erhoben – und mit einem im Internet geposteten Video eine Welle der Empörung ausgelöst, die sich gegen das Hotel und den fraglichen Mitarbeiter richtete. Nun, gut sechs Monate später, erhebt die Staatsanwaltschaft Leipzig Anklage – gegen den Künstler selbst. Nach umfangreichen Ermittlungen wirft sie Ofarim falsche Verdächtigung und Verleumdung vor.

Und was passiert? Kaum wird die Anklage publik, meldet sich Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer via Twitter zu Wort, unter anderem mit dieser Aussage: "Gil #Ofarim hat nicht nur d. Mitarbeiter, d. Hotel, d. Stadt & #Sachsen in Misskredit gebracht, sondern auch Schaden an d. jüdischen Gemeinschaft angerichtet. D. Mindeste was man nun erwarten kann, ist eine Entschuldigung, auch von denen, d. vorschnell ihre Schlüsse gezogen haben."

Erst Hotelmitarbeiter vorverurteilt, nun Gil Ofarim

Nun tut der werte Ministerpräsident mit dem letzten Halbsatz exakt das, was er anderen vorwirft. Man muss kein Jurist sein, um zu wissen, dass zwischen Anklage und Verurteilung ein himmelweiter Unterschied liegt – zumal das Landgericht Leipzig noch nicht einmal entschieden hat, ob es zu einem Verfahren kommt. Erst ein möglicher Prozess würde es der Öffentlichkeit vielleicht erlauben, sich annähernd ein Urteil darüber zu bilden, was genau in der Hotellobby passiert ist.

Nach Angaben des Hotels "The Westin" wurde der in dem Video beschuldigte Mitarbeiter persönlich und in den sozialen Medien massiv bedroht. Die Vorverurteilungen, die der Hotelmitarbeiter ertragen musste, sind schlimm gewesen. Dass Ofarim seinen Instagram-Account deaktiviert hat, lässt erahnen, was nun in den sozialen Medien über ihn hereinbricht. Nun also schwappt die Empörungswelle offenbar in die andere Richtung. Die, die Ofarim von vornherein der Lüge bezichtigten, dürften nun mit Häme nachtreten.

Ein Fehler – auch der Medien

Der Fall Ofarim ist geradezu exemplarisch für einen Mechanismus, vor dem auch wir Medien nicht immer gefeit sind. Ein mutmaßlich schlimmer Vorfall wird zum Anlass für vorschnelle Urteile genommen, ohne dass der Sachverhalt überhaupt klar feststeht. Durch massenhafte Postings, Tweets und Likes wird eine Empörungsspirale in Gang gesetzt, die jeden vorsichtigen Zweifel übertönt. Das führt dazu, dass auch wir Redaktionen mitunter viel zu schnell dabei sind, die sogenannte journalistische Sorgfaltspflicht der Lautstärke der Diskussion zu opfern. Für die Politik - siehe Kretschmer - gilt das im Übrigen ganz genauso. Auch Politiker neigen dazu, solche Aufgeregtheiten zu instrumentalisieren, um ihre eigene politische Botschaft unters Volk zu bringen. Zur Wahrheitsfindung trägt das selten bei.

 Natürlich ist Antisemitismus ein Thema, das in Deutschland besonders empört. Und ganz bestimmt will Ministerpräsident Kretschmer weiteren Schaden von seinem Bundesland und dessen Ruf abwenden. Aber zum jetzigen Zeitpunkt eine Entschuldigung von Ofarim zu fordern, als sei er längst der Lüge überführt, schießt genauso über das Ziel hinaus, wie zuvor die Hexenjagd auf den Hotelmitarbeiter. Fakt ist: Wir alle wissen letztlich nicht, was sich im Oktober 2021 vor und in dem Hotel in Leipzig zugetragen hat. Es ist Sache des Gerichts, das zu beurteilen. Bis dahin gilt: Ruhe bewahren und den möglichen Prozess abwarten. Danach sehen wir dann, wer sich alles bei wem entschuldigen muss.

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