Falls sich noch irgendjemand gefragt haben sollte, warum das "Time"-Magazin die Klima-Aktivistin Greta Thunberg just zur "Person des Jahres" gekürt hat, möge er sich ihren Tweet vom Wochenende und die Reaktionen darauf vor Augen führen. Schließlich geht es bei der Auszeichnung der "Time" schlicht um Einfluss auf die öffentliche Debatte, auch Rudy Giuliani oder Donald Trump standen auf der Shortlist. Aber wohl nur die 16-jährige Schwedin schafft es zurzeit mit einem einzigen Foto, auf dem sie in einem Wagen der Deutschen Bahn auf dem Boden sitzt, das Internet einmal komplett durchzuspielen.
Allerdings zeichnet der mediale Flächenbrand, der sich am Wochenende daraus entwickelt hat, auch ein faszinierendes, bisweilen beängstigendes Sittengemälde unserer Zeit. Weil es für die ganze Aufregung bei nur etwas genauerer Betrachtung gar keinen Grund gab.
Greta Thunberg sieht sich zu Erklärung genötigt
Denn: Sie reise auf überfüllten Zügen durch Deutschland, hatte Thunberg lediglich geschrieben, und sie sei endlich auf dem Weg nach Hause. So weit, so unstrittig, schließlich hat die Teenagerin monatelange Reisen inklusive zweier Atlantik-Überquerungen mit einer Segelyacht hinter sich.
Auch das mit den überfüllten Zügen stimmt offenbar: Von Basel bis Göttingen habe sie in zwei verschiedenen Zügen auf dem Boden sitzen müssen, erklärte Thunberg in einem weiteren Tweet, anschließend habe sie einen Platz gehabt. Und überhaupt seien volle Züge doch ein gutes Zeichen, weil sie von hoher Nachfrage für den Bahnverkehr zeugen.
Genau. Alles gut also? Mitnichten: Zu der nachgeschobenen Erklärung, warum und von wo sie auf dem Boden sitzen musste, sah Thunberg sich genötigt, nachdem ihr Tweet in der Höchstgeschwindigkeit eines ICE auf offener Strecke ein Eigenleben entwickelt hatte.
Da waren zunächst die User auf Twitter, die den Elfmeter verwandelten und die Bahn routiniert mit Hohn und Spott überzogen – woraufhin das Unternehmen sich via Twitter bei Thunberg erst für die Unannehmlichkeiten entschuldigte, um kurz darauf mit schnippischem Ton nachzulegen:
Diese "Enthüllung" stieß vielen Usern wiederum ebenfalls übel auf, weil sie plötzlich einen billigen PR-Stunt von "Team Greta" vermuteten. Nun gab es also vermeintlich neue Munition, um gegen die junge Ikone der Klima-Bewegung zu schießen – woraufhin diese, siehe oben, nur seelenruhig ihren kompletten Fahrplan offenlegte.
Souveräner Umgang mit der Wut-Spirale
Es ist erstaunlich, wie souverän Thunberg immer wieder mit den überhitzten Reaktionen auf jeden ihrer Moves umgeht, während die Spirale der Wut, die ihr Bahn-Foto ausgelöst hat, den neutralen Betrachter doch ziemlich fassungslos zurücklässt.
Warum? Wir fassen zusammen:
– Greta Thunberg hat sich in ihrem ersten Tweet nicht über die Bahn beschwert, was auch gar keinen Sinn gemacht hätte, weil eine Klima-Aktivistin sich über volle Züge nur freuen kann.
– Im sogenannten "Netz" machen sich die User trotzdem reflexhaft über die Bahn lustig, wobei der Auslöser nicht ganz klar ist: Eine volle Bahn und Passagiere, die keinen Sitzplatz kriegen, sind schließlich kein Aufreger, sondern Alltag. Und dass auch die Person des Jahres 2019 mal auf dem Boden sitzen muss, müsste der politisch korrekten und moralisch integren Internet-Polizei doch eigentlich nur gut gefallen.
– Und zu guter Letzt zeigt sich die Bahn bei Twitter erschreckend dünnhäutig, blamiert sich dabei einerseits mit der Unkenntnis der eigenen Fahrpläne und Zugausfälle, um andererseits eine 16-Jährige, die der Mob ohnehin mit Wonne am medialen Marterpfahl aufknüpft, als angebliche Blenderin bloßzustellen, sodass diese sich gezwungen sieht, diesen Eindruck selbst auszuräumen. Den unbezahlbaren Effekt, dass die Schwedin sich eigentlich bloß reichlich unschuldig wie eine junge Interrail-Reisende in einem ihrer Züge inszeniert, hat in der PR-Abteilung der Bahn offenbar auch niemand realisiert.
So bleibt am Ende bloß ein Musterbeispiel dafür, wie schnell sich sinnlose, grundlose Aufregung in unseren wahnsinnigen Zeiten verselbstständigt und wie die wichtigen Themen von der Wut übertönt werden. Greta Thunberg befand sich übrigens auf dem Heimweg vom Klimagipfel in Madrid. Über den erbärmlichen Kompromiss, auf den sich die Vertreter von knapp 200 Staaten dort nach Marathonverhandlungen einigen konnten, wurde am Wochenende gefühlt gar nicht gesprochen. Dabei wäre die Wut da ausnahmsweise mal angebracht gewesen.