Anzeige
Anzeige

Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert "Man kann nicht zwei Jahre den Chef-Kritiker spielen und sich dann nicht die Finger schmutzig machen wollen"

Kevin Kühnert im Interview mit NEON
Die Kritik an der GroKo machte ihn im letzten Jahr online und offline bekannt. Vielleicht könnte Kevin Kühnert Kanzler – er will es aber nicht. Mit NEON spricht der 29-Jährige über Kochshows, sein Outing und seine Zukunft in der SPD.

Man sieht Kevin Kühnert den Politiker nicht direkt an. Der 29-Jährige ist zwar Vorsitzender der Jusos, der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD, wie es so schön heißt – einen Anzug trägt er deshalb trotzdem nicht, als er die Redaktion von NEON in Hamburg besucht. Er habe sich als junger Mann geschworen, sich nie eine Krawatte umzubinden, sagt er. Vielen Deutschen ist Kühnert spätestens seit seiner Kritik an der Großen Koalition bekannt: Er forderte vor allem jungen Wähler auf, in die SPD einzutreten und mit ihrer Stimme beim Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag gegen die unfreiwillige Ehe mit der CDU zu stimmen. NoGroKo ging nicht auf, doch Kühnert wurde zur festen Größe, wenn es um die Stimme der Jungen in seiner Partei geht.

Kevin, heißt es bald: Kevin Kühnert for Kanzler?
Ich will definitiv nicht Kanzler werden und es treibt mich auch nicht an. Bis zum Ende des Jahres bin ich als Juso-Vorsitzender gewählt und habe auch so genug zu tun. Außerdem hat die SPD gerade ein paar andere Hausaufgaben zu machen, als die Diskussion um eine mögliche Kanzlerkandidatur – Vertrauen zurückzugewinnen zum Beispiel. Und egal, wer es wird, er oder sie sollte erst einmal dafür sorgen, dass die Ausgangslage besser wird. Dabei werde auch ich Verantwortung übernehmen: Man kann nicht zwei Jahre den Chef-Kritiker spielen und sich dann nicht die Finger schmutzig machen wollen. Mal schauen, wo ich mich am besten einbringen kann. Nur will ich nicht das Feigenblatt für etwas sein. Die Leute sollten nicht das Gefühl bekommen, jetzt sitzt Kühnert halt auch noch dabei und sagt ab und zu ein paar Sachen für die linke Parteiseele. Ansonsten ist aber alles wie immer.

Deine Partei hat gerade einmal 14 Prozent in den aktuellen Umfragen. Was macht die SPD falsch?
Ich will nicht die alte Debatte um die Große Koalition erneut beginnen. Aber es haben sich einfach große Verwerfungen in der Gesellschaft angestaut. Die Antworten, die wir jetzt eigentlich geben müssten, sind zurzeit in der Großen Koalition kaum möglich. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Bafög: eine Erfolgsgeschichte der SPD. Es hat jungen Menschen den Weg geebnet, die vorher nie in der Lage gewesen wären, an die Universität zu gehen. Heute sind im Bafög 250 Euro fürs Wohnen vorgesehen. Wer kann dafür ein WG-Zimmer oder gar eine Wohnung mieten? Wir haben eine Erhöhung durchgesetzt – aber es wird nur eine einmalige Erhöhung um vielleicht 100 Euro sein. Das gibt es dann nur wegen der SPD, aber es reicht natürlich immer noch nicht überall. Das steht stellvertretend für so viele Entscheidungen, bei denen die SPD dafür sorgt, dass Dinge ein Stückchen besser werden. Aber am Ende dankt einem keiner dafür, denn es ist vielleicht nicht das, was sich die Leute vorgestellt haben. Und auch wir selbst wollen natürlich mehr.

Dein NEIN zur Großen Koalition hat 2018 die politische Debatte mitbestimmt. Es kam auch von der Parteiführung der SPD die Kritik, du hättest konstruktive Politik innerhalb der Partei verhindert. Ziehst du dir den Schuh an, für die schlechte Lage der SPD verantwortlich zu sein?
Jein. Was ich mir nicht anziehe ist, dass wir konstruktive Politik verhindert hätten. Wenn man nur in Regierungen konstruktiv arbeiten könnte, würden wir ja quasi gegen den Sinn von Opposition eintreten. Dass der ganze Streit in der SPD, zu dem auch die Jusos im letzten Jahr beigetragen haben, nicht förderlich ist, gestehe ich ein. Wähler können manchmal das Gefühl haben, dass wir nie gemeinsam an einen Punkt kommen und zusammenarbeiten können – das macht keinen Spaß, so zu arbeiten und es nervt mich auch. Aber Konflikte müssen eben auch ausgefochten und gelöst werden, denn man merkt uns doch an, wenn man Streitigkeiten jahrelang vor sich herschiebt.

Vielen Wählern fehlen also klare Positionen in der SPD. Ein Beispiel ist die Debatte um das Abtreibungswerbungsverbot und den Paragrafen 219a. Die SPD hatte einen Antrag zur Abschaffung des Werbeverbots vorgelegt und hat einen Rückzieher gemacht, um die Koalition nicht zu gefährden. Wo wollt ihr 2019 eure Position durchsetzen?
Die Frage um das Recht zur Abtreibung von Frauen und die Informationsfreiheit für Ärztinnen und Ärzte muss noch endgültig entschieden werden. Wir Jusos werden da auch weiterhin klar Position für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und gegen eine Politik der 1950er Jahre beziehen. Ich persönlich möchte die SPD-Politik 2019 um ein Grundverständnis von Zusammenhalt aufbauen. Früher war es so: die SPD für die Arbeiter und die CDU für die katholische Landbevölkerung. Heute kann man gesellschaftliche Gruppen und ihre politischen Interessen nicht mehr nur nach Berufsstatus oder Konfession ansprechen, die Leute sammeln sich viel eher hinter Werten. Für mich dreht sich alles um Solidarität. Ob die Leute nun Solidarität brauchen, weil sie befristet beschäftigt sind oder aus ärmeren Verhältnissen kommen, oder ob es reiche Leute sind, die nicht in einer unsolidarischen Gesellschaft, in der ihre Nachbarn aus ihrem Kiez vertrieben werden, leben wollen, ist da erstmal egal. Für diese Leute wollen wir da sein.

Zusammen mit den Jusos will ich in diesem Jahr zudem eine Mindestvergütung für Auszubildende durchsetzen. Sonst bestimmt das Thema Europa die Politik in 2019. Gerade schauen wir alle auf den Brexit und sollten uns vor Augen führen, dass die meisten Briten scheinbar das Gefühl hatten und haben, dass die EU ihnen als Bürger nichts bringt. Die EU muss weg von einer reinen Wirtschaftsunion und hin zur Durchsetzung von Gerechtigkeit und gemeinsamen Sozial- und Umweltstandards. Der Europawahlkampf und die Abstimmung sind ein wichtiger Meilenstein in diesem Jahr.

Das Jahr 2019 hat direkt mit einem Skandal begonnen: Hacker haben in großem Maße private Daten von Politikern erbeutet. Grünen-Chef Robert Habeck, der auch betroffen war, hat sich daraufhin bei allen Sozialen Netzwerken abgemeldet. Wie stehst du dazu?
Ich maße mir nicht an, jemanden zu beurteilen, dessen privateste Daten kurz zuvor entwendet wurden. Dass man daraufhin seine Art verändert, digital zu kommunizieren, kann ich verstehen. Die Entscheidung ist individuell und vielleicht wird Robert Habeck sie auch noch einmal überdenken. Zudem finde ich es verlogen, dass sich alle jetzt auf ihn stürzen. Schöner wäre gewesen, sich für die Politiker zu interessieren, die seit vielen Jahren nicht im Netz präsent sind. Sie machen ihre Bürgersprechstunden in ihrem Wahlkreis, haben aber nicht verstanden, dass im Netz 24/7 Bürgersprechstunde ist und dass es kein Ausdruck von besonderer Nähe oder Authentizität ist, dort nicht stattzufinden. Die gehören für mich mehr kritisiert, als jemand, der sich in einer Drucksituation zurückzieht.

Wie schützt du denn deine Daten?
Wahrscheinlich auch nicht so gut, wie es sein könnte. Aber ich wechsele regelmäßig meine Passwörter, versuche nicht mit den gleichen Kombinationen zu arbeiten und nicht gerade den Vornamen meiner Mutter zu verwenden. Klar, das macht Arbeit – ein Hauptgrund, warum es viele nicht machen. Aber ich lasse auch nicht zu Hause die Wohnungstür offen mit der Argumentation, dass Aufschließen so anstrengt ist. Das Netz ist keine Parallelwelt – was wir zu Hause mit unseren Wertsachen machen, müssen wir auch im Netz beachten.

Du bist viel in den sozialen Netzwerken unterwegs. Bereust du manchmal, so viel von dir preiszugeben?
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nichts Wesentliches preisgegeben habe, das ich nicht preisgeben wollte. Man lernt einfach mit der Zeit, dass man sich nicht hinter einer Schattenwand bewegen kann, wenn man Politik macht und in der Öffentlichkeit steht. Die Leute wollen wissen: Wer ist der Typ, was macht er so und wie ist er zu dem geworden, der er ist? Aber ich vermarkte mich nicht. Wenn zum Beispiel Anfragen für Kochshows kommen, dann ist das für mich die Grenze; dort kann ich keine politische Botschaft mehr setzen. Wenn es darum geht, ob Kühnert gefüllte Paprika kochen kann, rutscht das Ganze in die Boulevard-Ecke ab.

Du hast dich Anfang letzten Jahres öffentlich geoutet. Warum hast du diesen Schritt in die Öffentlichkeit gewagt und warum ist es immer noch notwendig?
Das frage ich mich manchmal auch. Es ist einfach immer noch ein Politikum – wenn ich nicht darüber spreche, machen es andere. Vor meiner Zeit als Juso-Vorsitzender hätte ich gesagt, dass ich es nicht öffentlich machen würde. Mir ist aber schnell klar geworden, dass ich nun eine andere Rolle in der Öffentlichkeit habe. Und die sollte man auch dazu nutzen, Themen einen Raum zu geben und Leuten Mut zu machen. Die Selbstmordrate unter schwulen und lesbischen Jugendlichen ist immer noch überdurchschnittlich. Ich belästige niemanden mit meiner Sexualität und werde sie auch in keiner TV-Sendung breitreten. Aber es ist legitim zu zeigen, dass wir zur Gesellschaft dazugehören und auch politische Forderungen haben. Es herrscht eben noch keine Gleichstellung. Es ist auch von mir kein mutiger Akt gewesen, in die Öffentlichkeit zu gehen, denn alle, die es wissen mussten, wussten es längst.

Hast du Reaktionen von jungen Menschen zu deinem Outing bekommen?
Ich habe vor allem positive Reaktionen bekommen – zum Beispiel von Jugendlichen, denen mein Outing bei der Reflexion über ihre Situation geholfen hat. Ich selber weiß, dass es eine Initialzündung braucht. Bei mir war es Klaus Wowereit, der damalige Bürgermeister von Berlin, der sich als homosexuell geoutet hat. Es ist einfach wichtig, Role Models zu haben, die man in der Öffentlichkeit sieht. Solche Vorbilder muss es aber immer wieder neu geben. Kein Jugendlicher schaut heute mehr auf Klaus Wowereit.

Das "Time"-Magazin hat dich 2018 zu einem der zehn Anführer der neuen Generation gewählt. Du hast mehrere Fächer studiert, aber keinen Abschluss. Wie wird man ohne Abschluss Anführer?
Ich gebe auf solche Rankings recht wenig und bin total mit mir im Reinen. Ich frage mich oft, worin der Vorwurf eigentlich besteht, keinen Abschluss zu haben. Machen Menschen dann besser Politik? Mir wurde auch schon vorgeworfen, noch nie richtig gearbeitet zu haben. Ich arbeite durchgehend, seit ich die Schule abgeschlossen habe und verdiene meinen Lebensunterhalt. Die Vorstellung, nur mit einem Abschluss von der Universität ein gutes Leben zu haben, erscheint mir doch etwas zu hochnäsig. Es gibt so viele Möglichkeiten, nützlich zu sein in der Gesellschaft und sich einzubringen – nicht nur politisch, sondern auch durch seine Persönlichkeit, zum Beispiel im eigenen Freundeskreis. Diese Werte machen doch die Wirkung eines Menschen aus und nicht der akademische Grad. Und wer glaubt, dass ich nicht arbeite, kann mich gern eine Woche in Berlin begleiten – sollte aber genügend Ausdauer mitbringen.

Kevin Kühnert im Interview mit NEON

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel