Ex-SPD-Generalsekretär Kühnert tritt ab mit einem Knall

Kevin Kühnert steht hinter dem Rednerpult im Deutschen Bundestag
Was alles in drei Minuten hineinpasst: Kevin Kühnert hält zum Abschied eine Grundsatzrede
© Amrei Schulz/photothek / Imago Images
In einer unversöhnlichen Redeschlacht spielt ein überraschender Redner den Schlussakkord: Kevin Kühnert, der sich mit einem dringenden Appell aus dem Bundestag verabschiedet. 

Kevin Kühnert hat nicht viel Zeit an diesem Tag, nur drei Minuten sind es, um unter der gläsernen Reichstagskuppel loszuwerden, was er noch loszuwerden hat: Und das ist sehr grundsätzlich. 

Es wird eine mahnende Rede des früheren SPD-Generalsekretärs – und seine vorerst letzte im Bundestag.

Kühnert hatte sich im Oktober aus gesundheitlichen Gründen von allen Ämtern zurückgezogen, kandidiert nicht erneut für ein Mandat. Dass er heute und hier – am letzten Sitzungstag vor der Neuwahl – sprechen wird, hat auch in der SPD viele überrascht.

Als Kevin Kühnert im Bundestag redet, ist es ganz still

Jedes einzelne Wort liege ihm am Herzen, sagt Kühnert, als er um 12.40 Uhr als letzter Redner an das Pult tritt; dann legt er los. 

Er beklagt eine "Stilverschiebung, die mir aufstößt und große Sorgen macht". Spricht von einer "Verantwortung vor unserer Geschichte". Verurteilt Übergriffe auf Parteibüros von Union und FDP, die keine Faschisten seien. Mahnt, dass Konflikte mit Argumenten ausgetragen werden müssten. 

Kühnert rast Blatt um Blatt durch sein Redemanuskript. Anders als bei seinen Vorrednern ist es still im Saal, während er spricht. Die Minister auf der Regierungsbank lassen ihre Handys liegen, die Abgeordneten in den Fraktionsreihen ihre Unterlagen. 

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz sieht nachdenklich zum Rednerpult und lauscht, was sein früherer Generalsekretär zu sagen hat. Friedrich Merz, der CDU-Chef und Kanzlerkandidat der Union, ahnt zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon, was da gleich noch auf ihn zukommt. So viel vorweg: Er, der Jungstar, wird ihm, dem Politprofi, ziemlich die Leviten lesen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Kevin Kühnert, 35, gilt als politisches Ausnahmetalent. Rhetorisch stark, strategisch smart. Seinen Rückzug haben viele als herben Verlust empfunden, auch bei der politischen Konkurrenz und unter konservativen Sozialdemokraten ist der SPD-Linke geschätzt. Viele Abgeordnete schütteln ihm an diesem Tag die Hand, umarmen ihn. Ob es Wolfgang Kubicki (FDP) ist oder Katrin Göring-Eckardt (Grüne).

Ein Ausnahmetalent und sein plötzliches Karriereende

Erst Juso-Chef (2017), dann GroKo-Schreck (2018), später Königsmacher der Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans (2019), schließlich Generalsekretär nach dem SPD-Wahlsieg 2021. Ein Ausnahmetalent. Und eine Blitzkarriere, die im Oktober vergangenen Jahres ein unerwartetes Ende nimmt. 

"Für einen Wahlsieg der SPD braucht es den vollen Einsatz der SPD", schreibt Kühnert damals in einem Brief. "Ich selbst kann im Moment nicht über mich hinauswachsen, weil ich leider nicht gesund bin." Die Energie, die für sein Amt und den Wahlkampf nötig seien, brauche er auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden. Kühnert geht. Mit aller Konsequenz. Auch für den Bundestag kandidiert er nicht wieder.

In seiner letzten Rede im Reichstagsgebäude will er offenbar noch einmal zeigen, was für ein rhetorisches Talent dem Bundestag mit ihm verloren geht. Scharf, aber präzise nimmt er die Asyl-Abstimmung der Union gemeinsam mit der AfD aufs Korn. Eindringlich richtet er sich an den möglichen nächsten Bundeskanzler: Friedrich Merz.

"Sie geben das Ringen zunehmend auf", kritisiert Kühnert

Jeder Bundeskanzler müsse wissen, sagt Kühnert, was im Volk gesprochen werde, "aber ein Bundeskanzler, dessen Mund bloß wiedergibt, was sein Ohr zuvor gehört hat, ist nicht mehr als eine Echokammer auf zwei Beinen". Viele in der Union beteuerten zwar, die Rechtsradikalen rechts liegen zu lassen. Er glaube ihnen das. Aber: "Sie geben das Ringen zunehmend auf", kritisiert Kühnert.

Als Kronzeugen führt Kühnert Michel Friedman an. Dieser war nach der Abstimmung mit der AfD enttäuscht aus seiner Partei ausgetreten, hatte gegen Friedrich Merz danach sogar demonstriert. Früher hätte das etwas ausgelöst in der CDU, meint Kühnert, heute werde der "Störenfried angestrengt ignoriert". 

Kühnert wirft Merz Opportunismus vor

Seine Rede gipfelt in einer Anklage an den Oppositionsführer Merz: "Opportunität sticht Integrität", sagt Kühnert. Drei Worte. Frei von Hohn, Spott und Übertreibung. Das sitzt.

Kühnert hatte zuvor die gesamte Debatte im Plenarsaal verfolgt, fast vier Stunden, und sich im Verlauf immer wieder Notizen gemacht. Gesehen und gehört, wie unversöhnlich seine Vorrednerinnen und -redner im Wahlkampfendspurt übereinander herzogen, wie verhärtet die Fronten sind. 

Da warf Bundeskanzler Olaf Scholz seinem Herausforderer vor, die Europäische Union zu Grabe zu tragen. Friedrich Merz wiederum attestierte dem Amtsinhaber, das Land an die Wand gefahren zu haben, machte sich lustig über die SPD-Abgeordneten, die bald aus dem Bundestag fliegen. 

Bärbel Bas mahnt: Das Parlament ist kein Fußballplatz

Christian Lindner, der entlassene FDP-Finanzminister, vergab einen imaginären Physik-Nobelpreis an Scholz – schließlich habe der Kanzler den endgültigen Beweis erbracht, dass es Paralleluniversen gebe. Zwischenrufe, sogar Pfiffe sind im Hohen Haus zu hören. Bärbel Bas, die Bundestagspräsidentin, maßregelt das Plenum: "Wir sind hier nicht auf dem Fußballplatz." 

Der Ton wird rauer, unsachlicher, hämischer. 

 Schützen wir unsere Demokratie. Ich tue das in Zukunft von außen. Bitte tun Sie es von hier drinnen.

Kühnert verzichtet in seiner Rede weitgehend auf Parteiprosa oder Wahlversprechen der Sozialdemokraten. Als SPD-Generalsekretär hätte er wenige Tage vor der Wahl wohl auch keine Rede halten können, in der Friedrich Merz schon als wahrscheinlicher nächster Kanzler aufscheint. Hier redet einer, der geht. Das macht frei.

Bärbel Bas muss ihn ermahnen. Er solle bitte fertig werden. Kevin Kühnert hätte wohl noch viel mehr zu sagen. Spricht noch schneller. Und man würde gern noch von ihm wissen, was er denkt über den festgefahrenen Wahlkampf, die schlechte Lage seiner Partei, wie er die Sozialdemokraten in diesem Wahlkampf positioniert hätte. Aber das ist nicht der Tag. Noch eine Ermahnung: bitte Schluss jetzt. 

Um 12.51 Uhr ist wieder Wahlkampf

Dann nimmt er seine Notizen, rollt sie zusammen. Letzte Worte: "Schützen wir unsere Demokratie", ruft Kühnert. "Ich tue das in Zukunft von außen. Bitte tun Sie es von hier drinnen." Applaus, viele stehen auf. Auch in anderen Fraktionen als der SPD.

Das allerletzte Wort hat dann doch noch Bundestagspräsidentin Bas. Die Genossin wünscht ihm, "lieber Kevin", alles Gute. "Vielleicht sieht man sich hier im Hause ja noch mal wieder, wer weiß."

Um 12.51 Uhr ist die Sitzung geschlossen – und wieder Wahlkampf. (Mitarbeit: Julius Betschka)