Steinmeier mahnte unter anderem eine "Beseitigung von Fehlsteuerungen, eine bessere Treffgenauigkeit sozialer Transferleistungen" und die "Bekämpfung von Missbrauch" an. Ein "Austausch unter den Sozialbehörden" und "die Digitalisierung der Verwaltungsvorgänge" seien "überfällig", heißt es weiter. "Der Sozialstaat ist ein Schatz", sagte Steinmeier. "Reformieren wir ihn, um Wohlstand, Solidarität und Zusammenhalt zu bewahren."
Direkt wandte sich Steinmeier in seiner Rede an die Bundesregierung aus Union und seiner eigenen Partei, der SPD. "Liebe Koalition: Jetzt geht es nicht um Parteitaktik oder Umfragen. Es geht um unser Land! Es geht um den schwierigen Ausgleich von Interessen und um kluge Entscheidungen in der Sache. Dieser Verantwortung müssen Sie gerecht werden!"
Steinmeier bezog sich mehrfach auf vergangene Sozialreformen in der deutschen Geschichte - allerdings ohne die Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) wörtlich zu erwähnen. "Dass wir Reformen können, das haben wir in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder gezeigt", sagte Steinmeier, der unter Schröder sechs Jahre lang Kanzleramtsminister war.
Deutschland sei nun wieder "an so einem Punkt, an dem Reformen notwendig sind", betonte Steinmeier. "Es ächzt im System. Wir sind - wieder einmal - gefragt, den Sozialstaat neu zukunftsfähig zu machen." Das "Vertrauen in Gerechtigkeit und Fairness" müsse wiederhergestellt werden.
Der Sozialstaat lebe davon, dass "Menschen mit den Härten des Lebens nicht alleingelassen werden", sagte Steinmeier. "Aber er lebt genauso davon, dass es gerecht zugeht, dass jeder trägt, was er kann, und dass seine Leistungen nicht ausgenutzt werden von denen, die sie eigentlich gar nicht brauchen."
Steinmeier sagte weiter: "Auch Leistungsbezieher müssen ein Interesse daran haben, dass diejenigen, die diese Leistungen mit Steuern und Abgaben finanzieren, nicht überfordert werden." Wo wie beim Bürgergeld "die Kosten aus dem Ruder laufen", müsse "gegengesteuert werden". Wenn Leistungsempfänger arbeitsfähig seien, "müssen wir alles daransetzen, sie in Arbeit zu bringen."
Bei der Umsetzung von Reformen mahnte der Bundespräsident aber Augenmaß an. "Seien wir umsichtig. Eine Sozialstaatsreform (...) lässt sich nicht mit der Kettensäge erledigen." Reformen seien machbar, "wenn es dabei fair und menschlich zugeht".
Unterstützung erhielt Steinmeier aus der CDU. Generalsekretär Carsten Linnemann sagte dem "Tagesspiegel": "Der Bundespräsident hat recht: Wir müssen den Sozialstaat zukunftsfähig machen, Fehlanreize beseitigen und Missbrauch bekämpfen." Es brauche "Mut, auch schwierige Entscheidungen zu treffen." Linnemann stimmte Steinmeier zu: "Die Bevölkerung sieht den Handlungsbedarf, das Zeitfenster für Reformen steht offen wie seit 20 Jahren nicht mehr. Wir müssen jetzt liefern", sagte er. Die Union stehe dafür bereit.
Die schwarz-rote Bundesregierung hatte sich vor dem Hintergrund massiver Sparzwänge eine grundlegende Reform des Sozialstaats auf die Fahnen geschrieben. Die Wege dorthin sind aber in der Koalition umstritten. Kanzler Friedrich Merz (CDU) sagte, der Sozialstaat sei mit der derzeitigen Wirtschaftsleistung nicht finanzierbar und müsse verschlankt werden. Die SPD lehnt zu starke Einschnitte in den Sozialstaat ab.
Bundessozialministerin Bärbel Bas (SPD) hat im August eine Kommission eingesetzt, die bis Jahresende Vorschläge zur Modernisierung und Entbürokratisierung des Sozialstaats erarbeiten soll. Mit den konkreten Reformen einzelner Sozialsysteme in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Rente sollen sich separate Kommissionen befassen.