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Irgendwo im Nirgendwo Australien und die Suche nach der verschollenen Strahlenkapsel

Einsatzkräfte in Warnwesten auf dem Great Northern Highway in Australien
Auf der Suche nach der radioaktiven Nadel im Heuhaufen: Einsatzkräfte in Australien in Warnwesten auf dem Great Northern Highway
© Evan Collis / Department of Fire and Emergency Services / DPA
Im Westen Australiens herrscht Strahlungsalarm. Der Grund: eine erbsengroße radioaktive Kapsel ist – vermutlich – von einem Lastwagen gekullert, womöglich schon vor Wochen. "Sorry", heißt es vonseiten des Bergbauunternehmens.

In den schier endlosen Weiten des australischen Outbacks tuckert ein Lastwagen über den Highway. Sein Start: eine Mine nahe der 5000-Seelen-Bergbaustadt Newman. Sein Ziel: Malaga, Vorort der Millionenmetropole Perth. Irgendwann und irgendwo auf der 1400 Kilometer langen Route, ruckelt es. Vielleicht ein Schlagloch? Der Fahrer denkt sich wahrscheinlich nichts weiter dabei, schließlich steuert er einen Lkw über den Highway mitten durch die Wüste. Was er allerdings nicht bemerkt: Er hat etwas verloren. Einen winzigen, kaum centmünzen-großen Metallzylinder. Zwei Wochen später sucht gefühlt das halbe Land danach, Medien rund um den Globus berichten. Denn die Kapsel ist hochgradig radioaktiv – und damit potenziell tödlich.

Was sich wie der Klappentext einer Drei-Fragezeichen-Episode liest, ist tatsächlich so passiert. 

Wie zehn Röntgenbehandlung in einer Stunde: Kapsel ist hochgradig radioaktiv

Ursprünglich war der kleine Zylinder Teil eines Messgeräts, das zur Dichtebestimmung von Eisenerz verwendet wurde. Dieses Gerät war nach Behördenangaben in einer geschlossenen Holzkiste deponiert, die an eine Palette angeschraubt war, die wiederum auf der offenen Ladefläche des Lastwagens (englisch: Flatbed-Truck) verstaut war. Geholfen hat das am Ende ganz offensichtlich genau: nichts.  

Die unscheinbare Kapsel enthält nach Angaben der Katastrophenschutzbehörde Cäsium-137. Wer sich nur eine Stunde weniger als einen Meter neben der Kapsel aufhält, könnte sich ebenso gut zehnmal hintereinander röntgen lassen. Wer noch länger neben der Kapsel steht, riskiere Hautverbrennungen und im schlimmsten Fall eine Krebserkrankung. Sollte jemand die radioaktive Nadel im Heuhaufen entdecken, lautet die Devise also: Abstand halten! Fünf Meter mindestens, so Andrew Robertson, Chef der westaustralischen Gesundheitsbehörde. 

Dass aber überhaupt jemand die Kapsel bemerkt, der nicht gezielt danach sucht (und eine Menge Glück hat), ist aber mindestens unwahrscheinlich. Die Wüste im Westen des Kontinents gehört zu den am dünnsten besiedelten Gebieten Australiens – nur einer von fünf Einwohnern des Bundesstaats lebt außerhalb von Perth. Nicht nur, dass die Kapsel gerade einmal sechs mal acht Millimeter misst und irgendwo auf einer Distanz von der Länge Hamburg-Venedig verschollen ist. Es ist immer noch unklar, wann sich die Kapsel selbstständig gemacht hat. Irgendwann zwischen dem 10. Und 16. Januar – das war zeitweise die "präzise" Angabe. Inzwischen heißt es, der Laster habe die Gudai-Darri-Mine am 12. Januar verlassen, berichtet die BBC.

Dass die gefährliche Ladung überhaupt abhanden gekommen ist, das weiß der Minenbetreiber selbst offenbar erst seit kurzem. Am 25. Januar sei die Kiste zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Perth inspiziert worden – da lag das Malheur allerdings vielleicht schon mehr als zwei Wochen zurück. Bis dahin wusste angeblich weder der australisch-britische Minenbetreiber Rio Tinto, noch die Behörden Bescheid. Erst, als die Holzschachtel geöffnet wurde, habe man bemerkt, dass der Sensor "auseinandergebrochen" war, sagte Robertson laut einem Bericht der "New York Times" einem lokalen Radiosender. "Er war buchstäblich in Stücke zerfallen."

Und dann? Ja, dann begann das große Suchen. Weil die allerdings wenig überraschend erfolglos ausfiel, ging man an die Öffentlichkeit. Kurz darauf riefen die Behörden für weite Teile des Bundesstaats Strahlungsalarm aus. 

Unklar ist weiterhin, wie es dazu kommen konnte. Auch die bislang plausibelste Theorie dazu ist mit Vorsicht zu genießen. Demnach könnte sich eine Schraube in der Kiste durch eine Erschütterung gelöst haben, das Gerät könnte dabei zersprungen sein und die Kapsel könnte anschließend durch das Loch auf die Ladefläche des Lasters gerollt sein – von wo sie wiederum herunterfiel. Das ist zwar reichlich viel könnte, aber die bislang einzige echte Erklärung. Allerdings seien diese Messergeräte "so konstruiert, dass sie robust sind und in industriellen Umgebungen eingesetzt werden können, in denen sie Witterungseinflüssen und Vibrationen ausgesetzt sind", sagte Robertson auf einer Pressekonferenz am Samstag. "Um ehrlich zu sein, kratzen wir uns immer noch am Kopf", so Lauren Steen, Geschäftsführerin von Radiation Services gegenüber "ABC News".

Bergbauunternehmen: Tut uns leid!

Für Rio Tinto hätte es bessere Zeitpunkte für einen Skandal geben können. Die australische Öffentlichkeit ist nicht gut auf das Unternehmen zu sprechen, nachdem es 2020 zwei 46.000 Jahre alte, heilige Felsnischen der Aborigines hatte sprengen lassen, um die Eisenmine in der Juukan-Schlucht zu erweitern. Mehrere Spitzenmanager, darunter auch der Konzernchef, traten damals auf die anschließende Welle der Empörung hin zurück

"Wir sind uns darüber im Klaren, dass dies sehr besorgniserregend ist, und entschuldigen uns für die Beunruhigung, die dadurch ausgelöst wurde", erklärte das Rio Tinto am Montag laut BBC. Der Bergbauriese, der 2021 einen Jahresumsatz von mehr als 58 Milliarden Euro verbuchte, unterstütze die Behörden nicht nur – man habe eine eigene Untersuchung eingeleitet. Für die sichere Verpackung und den Transport sei allerdings ein Drittanbieter "mit entsprechenden Fachkenntnissen und Zertifizierungen" beauftragt worden. Bei der Abfahrt in der Miene war die Kapsel noch da – schließlich habe man per Geigerzähler die Radioaktivität der Ladung zweifelsfrei nachgewiesen. 

Mit absoluter Sicherheit weiß man nur: Die Kapsel ist weg. Derzeit durchkämmt ein behördenübergreifendes Einsatzteam das Suchgebiet mit Spezialausrüstung. "Wir versuchen nicht, ein winziges Gerät mit bloßem Auge zu finden", sagte Darryl Ray vom westaustralischen Katastrophenschutz. Man nutze auf Fahrzeugen montierte Detektoren, die erhöhte Strahlung Umkreis von 20 Metern erkennen könnten. Fünf Tage lang, so die BBC, sollen sie die Route in beiden Richtungen bei circa. 50 km/h abfahren. Gleichzeitig ist auf Fotos zu sehen, wie Einsatzkräfte in Warnwesten den Great Northern Highway entlanglaufen. Die Suchaktion dürfte sich Wochen hinziehen – wenn sich der Zylinder nicht längst im Reifenprofil irgendeines Fahrzeugs die nächste Mitfahrgelegenheit gesucht hat. Bis dahin, eine Anregung für die Zukunft: Einen GPS-Sender gibt es im Internet ab zehn Euro (15 australische Dollar). Vielleicht wäre das eine Investition wert – zumindest für potenziell tödliche Ladungen. Der lässt sich doch bestimmt irgendwie montieren?

Quellen: "New York Times"; "Washington Post"; BBC; "ABC News"; Pressemitteilung Gesundheitsministerium von Westaustralien

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