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Berlin ade Schnauze voll!

Zu viele Arschlöcher, zu wenig Gemeinsinn - und jetzt das Flughafen-Desaster. Warum mich nach zehn Jahren nichts mehr in Berlin hält. Eine Abrechnung.
Von Tyll Schönemann

Nach zehn Jahren Berlin reicht es jetzt. Ich werde gehen. München, Hamburg, Heimatstadt – egal, nur raus hier. Nein, es ist nicht nur das Airport-Desaster. Es ist das Muster, das hinter dem BER-Debakel erkennbar wird, ein Muster, das diese Stadt in all ihren Facetten geprägt hat: diese organisierte Verantwortungslosigkeit der Politik und der Verwaltung auf der einen und diese eigentümliche Leidensfähigkeit oder Gleichgültigkeit der Bürger auf der anderen Seite; was nicht im unmittelbaren Kiez passiert, interessiert nur am Rande. Flughafen hat nicht geklappt, aber hamse jehört, dit neue Hotel am Bahnhof Zoo is nu fertig.

Es ist einfach nicht zu fassen, dass es in dieser Stadt noch immer so viele Verteidiger und Schleppenträger von Klaus Wowereit gibt, der die Hauptverantwortung trägt für den größten Bauskandal, Pardon, seit der Errichtung der Mauer. Andererseits: Auch zu der gab es ja damals positive Stimmen, wenn auch hauptsächlich aus dem Osten, womit ich bei einem der irritierendsten Ärgernisse in dieser Stadt bin. Heute – es ist wirklich wahr – kann man ohne große Mühe Menschen finden in Charlottenburg oder Schöneberg, in Lichtenberg oder Köpenick, die die Mauerzeiten im Rückblick als recht heimelig empfinden. Unter ihnen nicht wenige, die sich am 9. November 1989 gar nicht mehr einkriegen konnten vor lauter "Wahnsinn!".

Diese Ost- beziehungsweise West-Nostalgie der eingesessenen Berliner meiner Generation nervt zunehmend. Die einen vermissen Harald Juhnke (West), die anderen Schrippen (Ost) und finden es unzumutbar, wenn im Prenzlauer Berg auch schwäbische "Weck-le" auftauchen. Schon mal was von Globalisierung gehört? Nö, wir arbeiten noch an den Schrippen.

Theoretisch wuppt man alles - theoretisch

Ach, Berlin. Die Stadt erinnert an ein kleines Kind, das zu Weihnachten ein viel zu schwierig zusammenzusetzendes Spielzeug erhalten hat und nun verbissen, aber vergebens mit der Bauanleitung kämpft. Man will ja – und zwar ganz doll. Und man weiß auch, wie es am Ende aussehen soll, aber man kann es halt nicht. Theoretisch wuppt man alles: Wolkenkratzer am Alex, Oper Unter den Linden, Sanierung des Kongresszentrums ICC, neues Schloss, Flughafen etc. pp. Die Pläne sind jeweils so hoch-fliegend, dass man mit ihnen in schöner Regelmäßigkeit den Boden unter den Füßen verliert.

Das Wechselbad der Gefühle ist eine Berliner Erfindung. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Manisch-depressiv, heute Größenwahn, morgen Minderwertigkeitsgefühl. Das ist es, was dem Rest der Republik so auf den Wecker geht und die reichen Länder über den Finanzausgleich räsonieren lässt: Dass man hier mit dicker Hose Projekte anschiebt und dann mit der Sammelbüchse durch die Republik zieht. Und in den örtlichen Feuilletons dieses auch noch feiert: "Berlin – die Stadt, die niemals fertig wird". Das klingt nach Wagemut und unaufhörlichem Fortschritt. Ich aber habe ihn satt, diesen Schwebezustand zwischen Wunsch und Wirklichkeit, den man in Berlin "Vision" nennt.

Versifft und verSUVt

In Wahrheit gleicht Berlin eher jenen unvermeidlichen U-Bahn-Schnorrern, die durch die öffentlichen Verkehrsmittel streunen und alle den gleichen Text verkünden: "Ein durch einen tragischen Unglücksfall unverschuldet in Not geratener Mensch bittet Sie um eine kleine Spende für sich und seinen Hund." Tut mir leid: Ich kann es nicht mehr hören.

Ein weiterer Grund, diese Stadt zu fliehen: dass man zum Armutsverächter werden könnte, ebenso wie man vorher schon Reichtumsverächter war. Die Stadt ist nicht nur versifft, sondern auch verSUVt. Nirgends wirken die allgegenwärtigen riesigen Geländewagen obszöner als hier, wo mehr Menschen als in irgendeiner anderen deutschen Stadt auf Versorgungsleistungen des Staates angewiesen sind. Nirgends wirken die Plattenbauten für Reiche mit den aufgeklebten Fassaden, französischen Balkonen und Quadratmeterpreisen, die dem Jahreseinkommen eines Friseurs entsprechen, provozierender.

In keiner vergleichbaren Großstadt Deutschlands ist der Kitt des gesellschaftlichen Zusammenhaltes so brüchig wie in Berlin, in keiner Stadt gibt es weniger Gemeinschaftsgefühl. Auch wegen der Zugezogenen, die in Gedanken ohnehin mehr da sind, wo sie herkommen. Im Grunde bleibt der Münchner auch in Berlin Münchner und der Stuttgarter eben Stuttgarter. Sie haben nicht mal Heimweh, im Grunde waren sie nie weg von zu Hause.

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Zu viele Arschlöcher - links wie rechts

Hinzu kommt: Die Stadt ist einfach derart groß, dass es von allem zu viel gibt, weit über ein erträg-liches Maß hinaus. Es gibt zu viele rechtsradikale Arschlöcher und zu viele linksradikale. Es gibt zu viele Arschlöcher mit Migrationshintergrund, die Respekt von jedem verlangen, ihn aber niemandem entgegenbringen. Es gibt zu viele Reiche, zu viele Arme, zu viele Verrückte, zu viel Schmutz, zu viel Glamour. "Nichts im Übermaß", riet schon vor über 2500 Jahren der Athener Politiker Solon seiner Stadt und seinen Menschen, wenn sie glücklich leben wollten.

In keiner Stadt ist der Bürgersinn so unterentwickelt. Wenn man erforschen will, welche verwahrlosenden Folgen die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich bei gleichzeitigem Schrumpfen der Mittelschicht hat, ist man in Berlin am richtigen Fleck. Wenn man es nicht erforschen will, muss man es dennoch erleben.

Die Verwahrlosung zeigt sich allerorten. Und wenn man etwas Positives darin sehen will, dann allenfalls, dass sie keine Klassenunterschiede kennt. Sie zeigt sich in vermüllten Parks ebenso wie auf den Straßen, wo Autofahrer ihre Blinker nicht finden und Bei-Rot-Fahren zur Regel wird. Sie zeigt sich an einem Berliner Wahrzeichen wie der Oberbaumbrücke, das sich bei näherem Hinriechen als Pissrinne nächtlicher Touristenhorden entpuppt, die Berlin zunehmend zum Ballermann Europas machen. Sie zeigt sich in Edelboutiquen auf dem Ku'damm, wo Verkäuferinnen aus dem Blondinen-Katalog und mit hervorragenden Russisch-Kenntnissen beim Kundengespräch sitzen bleiben. Und sie zeigt sich an von Graffiti gnadenlos verschmierten Häuserfronten, wobei die Stadt auch in dieser Szene so reich ist an Idioten, dass über richtig gute Graffiti richtig schlechte gesprüht werden.

Grinsende Ungeheuer namens "Buddy Bären"

Ich kann sie nicht mehr hören, die Lobgesänge auf die Berliner Kunstszene, die es klaglos hinnimmt, dass der öffentliche Raum vermüllt wird mit grinsenden Ungeheuern namens "Buddy Bären" – große Plastikteile mit hochgestreckten Tatzen, die aussehen, als wären sie von unterbelichteten Dekorateuren bemalt worden. Das Environment "Kunst kann auch hässlich sein" zieht sich durch die ganze Stadt, getoppt nur noch von einem Werk am Hauptbahnhof, wo der ehemalige Bahnchef Hartmut Mehdorn einen ihm bekannten Künstler ein riesiges Metall-Pferd hinstellen ließ. Dieses windet sich um ein ebenfalls riesiges Lokomotiven-Rad. Ein schreck-licher Metall-Furz. Jetzt kann man sich ungefähr vorstellen, wie es bei Mehdorns zu Hause aussieht. Das wollte man aber gar nicht wissen.

Ach ja, die viel besungene kreative Szene? Sie mag ja kreativ sein, aber sie ist vor allem eines: nicht erfolgreich. Innerhalb kürzester Zeit erliegen viele, die bei ihrer Ankunft vielleicht noch guten Willens waren, dem Ruf der Stadt: Man kann hier auch ohne viel Arbeit sein Auskommen haben und Stammgast im Techno-Club "Berghain" sein. Der große Rest landet im Heer des Prekariats oder im Vertriebsmanagement des Schuhversenders Zalando.

Und das liegt in allererster Linie an der Stadt, die auch sonst ihre Klischees mit großer Zuverlässigkeit erfüllt. Zum Beispiel das der Unhöflichkeit. Man findet es nach einer gewissen Zeit nicht mehr lustig, wenn ein Busfahrer die Frage, ob er über Tempelhof fährt, mit der Gegenfrage beantwortet: "Wat will ik denn da?" Da hat man dann Mühe, den heimlichen Wunsch zu unterdrücken, der Fahrer möge demnächst auf einen dieser Rowdys treffen, die regelmäßig Angestellte der Verkehrsbetriebe bespucken und anpöbeln, weil ihnen z. B. das Pinkeln im Bus untersagt wurde. Großstadtdschungel eben, in dem auch Affen anzutreffen sind, die an schönen Samstagen in Wettrennen über den Ku'damm rasen und ihre von Achtzylindern produzierten Abgase durch vier Auspuffrohre jagen, aber nicht ausrechnen könnten, wie viele Auspuffrohre da auf jeden Zylinder kommen.

Die Polizei kann nichts machen, schon weil sie sich schämt. Wer einmal erlebt hat, wie zwei Beamte im Opel Corsa an einem Unfallort aufscheinen mussten, an dem sich gerade Testosteron-gesteuerte Jungspunde mit ihren aufgemotzten Karossen in-einander verkeilt hatten – der ahnt, wie sich totale Erniedrigung anfühlen muss. Wer will in einer Stadt leben, wo einem die Polizei leidtun muss?

Berlin-Hype? War einmal!

Der Berlin-Hype ist zu Ende. Spätestens mit dem Flughafen-Desaster wurde der Stadt ihre Maske abgenommen. Zum Vorschein kommt eine notorisch unehrgeizige osteuropäische Hauptstadt mit einer notorisch unehrgeizigen Regierung und Bürgern, die sich autistisch in ihre jeweiligen Milieus zurück-ziehen. Und neuerdings mit einem Kaffeehaus, in dem George Grosz seinen dicksten Skizzenblock gebraucht hätte, was den Besitzer womöglich dazu animiert haben könnte, den Laden nach ihm zu benennen. Tout Berlin sitzt da. Und "Bild"-Kolumnist Franz Josef Wagner hält Hof wie einst Joseph Roth im Romanischen Café.

Berlin ist Leinwand für allerlei Fantasien. Doch nur weil Wagner für eine Zeitung schreibt, ist er noch kein Joseph Roth. Und nur weil Wowereit Regierender Bürgermeister ist, regiert er noch lange nicht. Und nur weil in Berlin Leben ist, ist Berlin noch lange nicht lebenswert. Zehn Jahre. Ich weiß noch nicht, wohin jetzt. Ich weiß nur, Berlin und ich sind durch.

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