Die Hitze hat dieses Jahr in der Türkei alle Rekorde gebrochen. Anfang vergangener Woche wurden über 50 Grad in der Sonne gemessen. Da schmolz der Asphalt zwischen Antalya und Kemer. Ausgerechnet während der Hochsaison - nicht gut für Hasan, einen Taxifahrer in Antalya.
Und dann auch noch der Wirbel um den hier inhaftierten 17-jährigen Schüler Marco W. "Was haben wir mit all dem zu tun?", fragt Hasan erzürnt. "Der Junge ist Deutscher, sie Engländerin. Meinetwegen soll er gleich nach Hause!" schimpft er, während er mit seinen Kollegen im Schatten eines Hotelhochhauses an der Mittelmeerküste sitzt und hofft, dass die Hitze am Abend ein wenig abnehmen möge.
Antalya, eine Urlaubsmetropole wie viele
"Antalya, ohne Zweifel die schönste Stadt auf Erden." Mit diesem angeblichen Zitat des Staatsgründers Kemal Atatürk begrüßt der Gouverneur von Antalya die Besucher auf den Internetseiten der Stadtverwaltung, neben Türkisch, Deutsch und Englisch neuerdings auch auf Russisch.
Wer will, kann im Dezember noch baden und wem es im Hochsommer zu heiß wird, der kann auf das nahe gelegene Taurusgebirge mit Gipfeln von über 3000 Metern ausweichen.
"Aus uns wird nichts"
Auf den Straßen Antalyas werden allerlei Waren auf Deutsch, Englisch, Hebräisch oder Russisch feilgeboten. Leicht bekleidete Touristen so weit das Auge reicht. Die Stadt ist nicht zu unterscheiden von vergleichbaren Metropolen in Griechenland, Frankreich, Italien oder Thailand: Kneipen, Discos, junge und schöne Menschen lachen, flirten - Urlaubsstimmung eben.
Hier an der "Türkischen Riviera" zwischen Antalya im Westen (über 650.000 Einwohner) und dem Kap Anamur im Osten verbringen jedes Jahr fast sieben Millionen Touristen ihren Urlaub. Für viele Deutsche ist der Küstenstreifen inzwischen sogar zur zweiten Heimat geworden. Das Verhältnis zwischen den deutschen Einwanderern und Touristen sowie den Einheimischen ist seit Jahrzehnten ausgesprochen gut. Im Dolmuş (Sammeltaxi), im Männercafe oder selbst in schicken Szenelokalen fangen die Debatten oft mit dem Spruch "Adamlar yapiyor abi ya / Die (Deutschen) machen es schon ganz gut!" und enden mit "Bizden adam olmaz! / Aus uns wird nichts!"
Arrogante Haltung der Deutschen
Doch in diesem Sommer ist die Stimmung gekippt. Die Urlaubsleichtigkeit wird von schweren Tönen belastet. Gewöhnlich werden pro Jahr zehn bis 15 Fälle, bei denen Urlaubsbekanntschaften vor dem Richter enden, geräuschlos abgewickelt. Dafür kennen Konsularbeamte und spezialisierte Anwälte Mittel und Wege. Aber jetzt, seit der Fall Marco W. erst durch die deutschen, dann durch die türkischen Massenblätter in allen Details breitgetreten wurde und zur bilateralen Krise ausgewachsen ist, reagiert nun auch eine breite türkische Öffentlichkeit anders als sonst.
"Es irritiert uns, dass Journalisten, Politiker aber auch Juristen aus Deutschland sich zu dem Fall äußern, ohne sich vorher zu erkundigen, worum es hier überhaupt geht. Es ist eine sehr arrogante Haltung", sagt Deniz Yildirim von der deutsch-türkischen Rechtsanwaltskanzlei in Antalya. Yildirim hat ein Gymnasium in Dortmund besucht, ein Jurastudium in Ankara und ein Aufbaustudium an der Ruhr-Universität Bochum absolviert. Zwischen 1999 bis 2005 hat sie als Rechtsbeistand für türkisches Recht in Dortmund gearbeitet und anschließend ihre Zulassung als Rechtsanwältin in der Türkei erhalten. Seitdem hat sich eine enge Zusammenarbeit mit dem deutschen Konsulat in Antalya, sowie mit der österreichischen Botschaft entwickelt. Viele ihrer Mandanten sind Versicherungen und Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum Europas.
Türkische Kolumne erzürnt Frauenrechtlerinnen
Die unverhohlenen Drohungen von deutschen Politikern und die Verknüpfung des Falles Marco W. mit den EU-Beitrittsbemühungen der Türkei macht sie "fassungslos".
"Man kann, wie alle Gerichtsentscheidungen, auch diese Entscheidung des Gerichtes kritisieren, Marco länger in Haft zu behalten. Es ist aber eine Ermessensentscheidung der Richter, und die kann nun mal nicht per Anweisung des Außenministers geändert werden", sagt Yildirim. Die Behandlung durch die Deutschen empfände die türkische Justiz als eine "Behandlung à la Bananenrepublik".
"Milliyet", einer der auflagenstärksten liberalen Tageszeitungen des Landes, musste diese Woche eine halbe Seite für eine Entschuldigung opfern. Stein des Anstoßes war eine Kolumne des prominenten Journalisten Hasan Pulur, der den Zwischenfall Marco W. mit der Überschrift kommentierte "Eine Engländerin legt einen Deutschen flach, wir sollen den Kummer tragen?" Derya Sazak, der Ombudsman der Zeitung, berichtet, dass der Kolumnist und die Chefredaktion mit erzürnten Reaktionen nicht nur der Frauenrechtlerinnen überschüttet wurden. Dabei wollte Pulur nur die Unabhängigkeit der türkischen Justiz betonen und die Einmischung deutscher Medien und Politiker kritisieren.
Vertreterinnen von MEDIZ, eine Gruppe von Frauen, die aufmerksam die Medien verfolgen, Ärzte, aber auch männliche Leser schrieben an die Redaktion. Ayse Sargin brachte es für viele Leserinnen des Blattes auf den Punkt: "Eine Zeitung, die den Vorwurf eines sexuellen Missbrauchs nicht ernst nimmt, kleinredet, und auf 'flachlegen' reduziert, macht die Opfer mutloser und bestärkt nur die Belästiger und die Vergewaltiger. Dabei ist es wichtig, dass die Männer die Gewalt, der Frauen oft ausgesetzt sind, verstehen und sich mit den Opfern solidarisieren lernen." Chefredakteur Sedat Ergin und Kolumnist Pulur entschuldigten sich für diese "Diskriminierung".
Diese und ähnliche Geschichten sind Zeichen einer neuen Sensibilisierung in der Türkei - und ihrer Auswüchse. Kurz vor der zweiten Gerichtsverhandlung im Fall Marco W. klingelte bei einem Anwalt in Antalya das Telefon. Eine aufgeregte Frauenstimme aus Deutschland schilderte einen Fall, bei dem der Anwalt erst an einen "schlechten Scherz" dachte.
Ihre Tochter mache in Antalya Urlaub mit ihrem Freund. Sie sei in einer Ferienanlage von einem Masseur sexuell belästigt worden. Auf der Polizeiwache, wo sie Anzeige erstatten wollte, habe man aber ihren Freund nicht mit reingelassen. Sie sei sehr besorgt, "aber machen Sie schnell, sonst rufe ich die 'Bild'-Zeitung an". So schnell sah man den Anwalt selten zum Staatsanwalt rennen...