Im letzten Sommer wurde Melissa Rein Lively weltberühmt. In einem Video stürmte sie in einen Supermarkt und zerstörte dort die Maskenregale. Ein zweiter Clip zeigte ihre spätere Auseinandersetzung mit der Polizei. Die aufgebrachte Frau schrie die Beamten an, sie würde mehrmals am Tag mit Donald Trump sprechen.
Nun redet sie mit der "London Times" über ihr QAnon-Fieber, wie sie es nennt. An die beiden Vorfälle kann sie sich kaum noch erinnern. "Totaler Blackout." Melissa Rein Lively erlitt damals einen psychotischen Zusammenbruch. Verursacht aus einer traumatischen Kindheit, dem Druck der Pandemie und dem QAnon-Wahn.
Stress, Sorgen und schwierige Kindheit
Damals litt sie unter großem und verständlichem Stress. Über Nacht verlor ihre PR-Firma über 50 Prozent des Umsatzes. Dass sie die Mitarbeiter entlassen musste, setzte ihr schwer zu. "Ich dachte, ich stehe morgen auf der Straße. Ich werde obdachlos sein. Es gab nicht mehr viele rationale Gedanken", sagt sie heute.
Damals flüchtete sie ins Netz. Jack Bratich, Professor für Journalismus und Medienwissenschaften an der Rutgers University sagte der Zeitung, dass die Präsidentschaftswahlen und die Pandemie im letzten Jahr den perfekten Verschwörungs-Sturm produzierten. Isolierte Menschen voller Angst suchten Halt im Internet und da bot QAnon die Antworten, die sie suchten.
Einstieg New-Age
Rein Lively zog nicht die Politik, sondern der spirituelle Aspekt an. "Ich bin sehr New-Age-lastig, sehr spirituell." Schon vor der Pandemie beschäftigte sie sich mit ayurvedischer Gesundheit, natürlicher Medizin, Atmung und Chakren. Das hört sich esoterisch an, war politisch aber vollkommen harmlos. "Als ich anfing, über die Zukunft der Menschheit zu lesen und darüber, dass wir uns in diesem neuen Zeitalter des Wassermanns befinden, hat mich das alles angesprochen", sagt Rein Lively heute.
Doch an diesen Formen von New-Age-Mystik setzt QAnon an. "QAnon ist daran interessiert eine spirituelle Wiedergeburt zu vermitteln, also sind Yoga- und Wellness-Gemeinschaften reif dafür, denn auch dort wird mit Ideen von Transzendenz, Offenbarung und Erwachen gehandelt", sagt Bratich zur "Times". Vom Wassermann war es nur ein Mausklick zu "Gesundheits"-Seiten, die den Coronavirus-Impfstoff verurteilten, die die Pandemie als einen Schwindel bezeichneten, der fabriziert worden sei, um Trump zu stürzen. In den USA gibt es eine explosive Mischung aus skeptischem, populistischem Misstrauen gegenüber der Macht und der Hingabe an vermeintlichen Glaubensweisheiten. Dieses Paradox zeigte auch der "Schamane" Angelie. Er trug im Capitol ein Plakat mit der Aufschrift "Haltet die Linie, Patrioten - Gott gewinnt".
Angst vor einem "zweiten Holocaust"
Zuerst fand Rein Lively Trost in den spirituellen Ideen. "Aber das erste, was mich wirklich ins Trudeln brachte, war dann diese Vorstellung: 'Erst zwingen sie dir eine Maske auf, und dann stecken sie dich in den Waggon.'" Sie fürchtete, dass den USA eine medizinische Tyrannei droht, die zu einem "zweiten Holocaust" führen wird. Rein Lively ist keine "Rechte", sie ist Jüdin und zwei ihrer Großeltern haben den Holocaust überlebt. Und wer diese finsteren Eliten sind, die patriotische Amerikaner ins KZ stecken wollen, glaubte sie damals auch zu wissen. "Die Globalisten. Die UN. Die Weltgesundheitsorganisation. George Soros, Dr. Fauci."
Während sie immer mehr von der vermeintlich neuen Lehre erfüllt wurde, entfremdete sie sich vollständig von ihrem Mann, der dem Verschwörungsunsinn nichts abgewinnen konnte. Eine Bewegung, die typisch für Sekten ist. Rein Lively wurde Missionarin für QAnon. "Ich habe Instagram-Stories gepostet, als wäre es mein Job. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Pflicht hatte, die Leute zu informieren", sagt Rein Lively heute. "Aber QAnon konditioniert dich auch, zu glauben, dass das, was sie sagen, die Wahrheit ist, und wenn irgendjemand versucht, dich vom Gegenteil zu überzeugen, kannst du ihm nicht mehr trauen. Es zerstört Beziehungen."
Das Netz wirkt als Verschwörungsturbo
Nach monatelangen Ermahnungen, sich vom Internet fernzuhalten, flüchtete Ehemann Jared in ein Hotel. Nach dem Target-Vorfall reichte er sogar die Scheidung ein. Nach ihrem Zusammenbruch meldete sie sich in dem Therapiezentrum in Arizona an, in dem auch Harvey Weinstein und Kevin Spacey behandelt wurden. Mit ihrem Mann konnte sie sich inzwischen wieder versöhnen.
"Die Leute denken, QAnon, das seien zahnloser Penner irgendwo in einem Keller, aber das ist es nicht. Es sind intelligente Menschen, die Unstimmigkeiten erkennen und dann von den Algorithmen zu Seiten geführt werden, die all ihre Verdächtigungen bestätigen. Das ist einer der Gründe, warum es so heimtückisch ist." Rein Lively ist gewiss nicht "White Trash". Sie hat eine Firma geleitet. Acht Wochen blieb sie in einem Therapiezentrum, in dem ein Tag mehr als 1000 Dollar kostet. Sie wurde ein Opfer ihres Stresses und der Algorithmen, davon ist sie zumindest überzeugt. Wer sich wie Rein Lively einige Nächte durch die Wahnwelt der QAnon-Bewegung gescrollt hat, wird von da an mit immer neuem Verschwörungsstoff beliefert.
Quelle: The Times