Phase 1: Nicht-wahrhaben-wollen
Du gehst nicht mehr zur Schule, sondern zur Uni oder Arbeit, hast einen eigenen Führerschein und längst eine eigene Meinung. Deiner Mutter sagst du nicht mehr, wann du wo und mit wem bist, und dein Geschirr lässt du so lange stehen, bis es jemand anderes für dich in den Geschirrspüler räumt. Du führst ein WG-Leben mit deinen Eltern, deine Eltern aber nicht mit dir. Sie wollen gerne wissen, wann du wo und mit wem bist, und sie hassen es, dein Geschirr wegzuräumen. Ihr streitet ein bisschen zu oft, aber deshalb ausziehen? Nein! Du hast das Beste aus beiden Welten: Du lebst wie ein Kind - mit dem Alltag, Körper und Verstand eines Erwachsenen. Du bist und bleibst gerne zu Hause, es ist ja auch so verdammt praktisch.
Phase 2: Realitätscheck
Tief ein- und ausatmen. Die Wahrheit ist: Du bist ein reifer Apfel, der schon längst vom Stamm hätte fallen müssen. Du musst aktiv werden, denn was du nicht machst, wird nicht passieren. Deine Eltern werden dich vielleicht erst rauswerfen, wenn du dein drittes Kind kriegst oder dein drittes Kind sein erstes. Und dass deine Eltern sich eine neue Wohnung suchen und dir das Haus überlassen, kannst du knicken. Und ja, alleine wohnen kostet Geld, ja, du musst dich um Papierkram kümmern, und ja, vielleicht mal dein Fahrrad selber reparieren. Erwachsen werden ist anstrengend, aber doch eben nichts, was man vertagen kann!
Phase 3: Aufbruchsstimmung
Du fasst dir ein Herz: Du sagst es deinen Eltern, du erzählst es deinen Freuden, du suchst dir einen Job und quälst dich auf der Suche nach deiner Traum-WG von Besichtigung zu Besichtigung. Ab jetzt sitzt du unangeschnallt in der ersten Reihe einer Gefühlsachterbahn, aus der du nicht aussteigen kannst; zwischen Euphorie über deine neue Selbstständigkeit, Melancholie darüber, wie schnell die Zeit vergeht, und Panik vor der Verantwortung, die du ab jetzt für dich trägst. Dein letzter Glücks-Bambus ist nach 2 Tagen eingegangen – wie sollst du dich denn da um dich selber kümmern?

Julia Engelmann
Wurde 1992 geboren, wohnt in Bremen und studiert heute Psychologie. Seit einigen Jahren nimmt sie regelmäßig an Poetry Slams teil. Ein Video ihres Vortrags "One Day" beim Bielefelder Hörsaal-Slam wurde zum Überraschungshit im Netz 2014 und bisher millionenfach geklickt, geliked und geteilt. Anfang 2014 ging sie mit Tim Bendzko auf Tour. Neben dem Slammen gilt ihre Leidenschaft der Musik und der Schauspielerei - mehr als zwei Jahre spielte sie in der Soap "Alles was zählt" mit. Ihr Buch "Eines Tages, Baby" ist 2014 im Goldmann Verlag erschienen und schaffte es Anfang 2015 auf die "Spiegel"-Bestseller-Liste. (Foto: Marta Urbanelis)
Phase 4: Suchen, packen, umsiedeln
Bis auf die Kompromisse bei Preis, Lage, Ausstattung und Mitbewohnern hast du endlich deine Traum-WG gefunden. Der Termin steht fest, der Eimer Wandfarbe im Flur. Du hast deine Kindheit eher intuitiv als planvoll in Kartons gepackt und Poster abgehangen, deren Umrisse sich nun für immer auf der verfärbten Tapete zeigen werden. Alte Schulsachen und Kuscheltiere konntest du von der Abschussliste heimlich in die Garage retten und so ist dein leeres Kinderzimmer nun bereit, ein neuer Abstell-, Hobby- oder Meditationsraum zu werden. Und du, du bist bereit für den nächsten Schritt: Raus aus Hotel Mama und rein ins Abenteuer!
Phase 5: Stunde Null
Der Lader steht fertig gepackt vor der Haustür, deine Mama hat Tränen in den Augen, und dein Papa murmelt, dass das jetzt ja nicht für immer ist, und du nickst ein bisschen, obwohl ihr alle genau wisst, dass das jetzt für immer ist. Neuanfang heißt eben auch Abschied, und ihr macht das alle sehr gut. In den nächsten Wochen wirst du verstehen, wie privilegiert man als Kind lebt und dir zum ersten Mal sicher sein, dass du keins mehr bist. Du wirst neuen Respekt vor deinen Eltern bekommen und davor, wie gut sie Haushalt, Arbeit und Familie gleichzeitig wuppen. Du wirst Geschirr stehen lassen, einfach, weil du es kannst, bis du merkst, dass du nach ein paar Tagen kein sauberes mehr hast. Bestimmt wirst du dann euren Geschirrspüler vermissen, nicht aber, dass dir jemand sagt, was du machen sollst.
Heute Nacht jedenfalls schläfst du das erste Mal in deinem neuen Zimmer - in einer anderen Wohnung, in einer anderen Straße, vielleicht sogar in einer anderen Stadt. Morgen früh wird deine Mutter zu Besuch kommen, mit einem neuen Glücks-Bambus im Arm. Und dieses Mal wird er dir nicht nur nicht eingehen, sondern vielleicht auch ein bisschen blühen.
Mein Soundtrack zum Text: The Cinematic Orchestra - "To Build A Home"