Die großen, wichtigen Dinge sage ich nicht laut. Die behalte ich für mich, die sind der Subtext unter meinen Handlungen, die stehen zwischen den Zeilen meiner Whatsapp-Nachrichten, die sieht man doch in meinen Augen. Du siehst meine Gedanken doch in meinen Augen, oder nicht? Du merkst das doch, dass ich sauer auf dich bin, du siehst mir doch an, wie gerne ich dich mag, du weißt doch längst, was ich denke, das ist doch offensichtlich?
Das ist für mich wie ein ungeschriebenes Gesetz. Die wichtigen Dinge sage ich in Extremsituationen – in seltenen Briefen, im Streit, wenn ich irgendwo weggehe oder in Hochzeitsreden, höchstens. (Ich habe noch nie eine gehalten, aber so stelle ich mir das vor.) Das ist größerer Humbug, als kochendes Wasser einzufrieren, um schneller kochendes Wasser zu haben.
Das führt dazu, dass ich viele komische Situationen erlebt habe, in denen ich mich unwohl gefühlt habe, in denen ich andere Dinge hätte sagen wollen, in denen ich vielleicht überhaupt etwas hätte sagen sollen. Situationen, von denen ich nächtliche Flashbacks habe, die mich dazu bringen, mir noch zehn Jahre später beide Hände vor die Augen zu halten, in der Hoffnung, ich könnte mich dadurch nachträglich in Luft auflösen.
Die Angst vor der Wahrheit
Julia Engelmann: Jede Woche, Baby!
Wurde 1992 geboren, wohnt in Bremen und studiert heute Psychologie. Seit einigen Jahren nimmt sie regelmäßig an Poetry Slams teil. Ein Video ihres Vortrags "One Day" beim Bielefelder Hörsaal-Slam wurde 2014 zum Hit im Netz und bisher millionenfach geklickt, geliked und geteilt. Anfang 2014 ging sie mit Tim Bendzko auf Tour. Neben dem Slammen gilt ihre Leidenschaft der Musik und der Schauspielerei - mehr als zwei Jahre spielte sie in der Soap "Alles was zählt" mit. Ihr Buch "Eines Tages, Baby" ist 2014 im Goldmann Verlag erschienen und schaffte es Anfang 2015 auf die "Spiegel"-Bestseller-Liste. (Foto: Marta Urbanelis)
Der einzige Grund, mich in Luft auflösen zu wollen, ist Angst vor der Wahrheit. Angst davor, ich zu sein. Der kleine Bruder dieser Angst ist der Wunsch, anderen um jeden Preis gefallen zu wollen. Ich habe immer Befürchtungen, dass meine Wahrheit irgendwas kaputt macht, dass ich mich damit entblöße. Das dann jemand sagt: "So bist du also, oh ha!" Deshalb versuche ich die Wahrheit zu vermeiden, diffus zu reden, den Dingen Zeit zu geben, allem immer noch mehr Zeit zu geben. "Ich denke da noch mal drüber nach" ist mein Schutzschild, mein Snooze-Button, meine elegante Lösung wegzulaufen. Als Dranbleiben getarntes Weglaufen.
Ich versuche diffus zu bleiben, wie ein Boyband-Liebeslied, mit dem sich jedes Mädchen angesprochen fühlen soll. Ich mag keine Dissonanzen, Konflikte, Uneinigkeiten. Ich will mit jedem Menschen und jeder Situation eine angenehme Schnittmenge haben. Ich will Wahrheit ohne Fallhöhe.
Wahrheit ohne Fallhöhe ist einfach. So wie Fallschirmspringen von meinem Schreibtisch einfach ist. (Auch das hab ich noch nicht getestet, vielleicht würde ich mit dem Equipment auch an einer Stiftebox hängen bleiben). Aus Verlegenheit sage ich dann manchmal den falschen Menschen die wichtigen Dinge. Ich sage "Ich würde mich freuen, dich zu sehen" und es stimmt. Aber ich kann es nur sagen, weil es mir nicht so wichtig ist, ob die Person das auch denkt. Weil ich von meinem Schreibtisch aus kein Risiko eingehe. Das ist größerer Humbug, als sich im Zug schon 15 Minuten vor Ankunft an die Tür zu stellen.
Verschlossene Schublade im Kopf
In meinem Kopf ist eine verschlossene Schublade mit lauter ungesagten Wahrheiten. Und ich habe Lust, auszumisten. Ich habe Lust, mein eigener Peter Zwegat zu sein und die Wahrheit auf ein Flipchart zu schreiben. Ich will laut sagen, wenn mir etwas nicht gefällt, wenn mir jemand viel bedeutet. Ich will sagen "Ja" und "Nein". Und es so meinen.
Ich habe nämlich festgestellt, dass es wichtig ist, genau die großen Wahrheiten auszusprechen. Erste Testdurchläufe haben ergeben, dass die Wahrheit unabdingbar ist, um die zu werden, die ich bin. Unabdingbar, um das Leben zu führen, das ich mir wünsche. Unabdingbar für meine Freiheit. Konflikte entstehen nicht, weil ich sie laut sage. Aber ich kann sie dadurch überwinden. Meine größte Fallhöhe ist eine innere, nicht enden wollende, heimliche. Deshalb werde ich die Schublade in meinem Kopf öffnen.
Es stellt sich raus, dass das keiner für mich machen kann – außer mir. Es stellt sich raus, dass du mir nicht ansiehst, was ich denke. Da hätte ich auch drauf kommen können, weil ich es dir auch nicht ansehe. Es stellt sich raus, dass ich den Fallschirm auf meinem Rücken benutzen kann. Allein schon, weil es blöd aussieht, ihn immer mit mir rumzutragen.
Mein Soundtrack zum Text: "Ruby Blue"“ – Sleeping At Last