Jüngst waren wir ja schon – der Jahreszeit entsprechend – beim Thema Aufräumen & Ausmisten. Genauer, Sie erinnern sich vielleicht, bei der Frage, ob man Abitur- und Unizeugnisse aufbewahren sollte, obwohl die ein Lebtag lang niemand hat sehen wollen. Einige Leserzuschriften haben mich überzeugt: aufheben. Erstens wegen Rentenantrag, zweitens wegen eines möglichen Zweitstudiums nach Rentenantrag. Okay. Man weiß ja nie. Trotzdem ulkig, oder? 50 Jahre lang braucht man so einen Zettel nicht, und dann eines Tages doch. Vielleicht.
Was mich zu der Anschlussfrage bringt: Was an sinnlosen Dingen sollte man denn noch so aufheben? Ich habe wie vermutlich viele ein Kistchen mit Zeug, das ich zum Teil seit Jahrzehnten mit mir herumschleppe, von Wohnung zu Wohnung. Darin befindet sich unter anderem ein Tüchlein mit pastellfarbenen Pudeln, das ich mit drei oder vier Jahren mal als Kopftuch getragen habe. Es ist mit weitem Abstand das älteste unter meinen Besitztümern und gewinnt mit zunehmendem Alter sogar noch mehr an Wert. Es hat keinerlei Funktion außer dieser allerwichtigsten: mir zu sagen, dass es das Tuch immer noch gibt und mich auch. Bis jetzt überlebt zu haben (und das gut), das ist doch schon was, das muss man sich immer mal wieder klarmachen.
Andere Dinge aus der Kiste haben mit Veränderungen zu tun (das Passfoto von 1985, das mich spackendürr, mit raspelkurzen Haaren und diesem typischen unbesiegbaren Blick der Mittzwanziger zeigt), mit Stolz (die Medaille vom New York Marathon 2007), mit intellektueller Protzerei (die zerfledderte Ausgabe von James Joyces "Ulysses", auf Englisch natürlich, mit spinnwebfeinen Bleistiftnotizen an den Rändern), mit Reisen (ein Stück bemalte Ziegenhaut mit einem äthiopischen Heiligen, der die Vögel von seinen Tränen trinken ließ) oder mit längst vergangenem Schmerz (der Silberring, den ich lange trug, eingraviert der Spruch "This too will pass").
Puzzleteile, die sich zu einem Leben zusammensetzen
"Auch dies geht vorbei", in der Tat. Alle diese Dinge weisen in die Vergangenheit, sie sind Souvenirs vergangener Lebensphasen. Oft so sehr vergangen, dass sie gelegentlich wie nie gelebt erscheinen. Mein erstes Kinder-Adressbüchlein mit vier- bis fünfstelligen Telefonnummern und wildfremden Namen, die mir nicht das Geringste sagen – die habe ich mal gekannt? Und sie mich? Und wieso weiß ich das nicht mal mehr?
Warum also sollte man all das Zeug aufheben?
Weil dieser wertlose Plunder von unschätzbarem Wert ist. Weil diese Dinge Puzzleteile sind, die sich zu einem Leben zusammensetzen lassen – ungemein lückenhaft natürlich, denn es fehlen doch mindestens 99 Prozent der Steine. Doch das Wenige, das einem kostbar ist, erzählt bereits ungemein viel – Archäologen können ja oft schon aus einem einzigen Zehenknöchelchen ganze Dinosaurier rekonstruieren.
Am wichtigsten aber: Wenn man das Sammelsurium richtig liest, erzählt es nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von einer möglichen Zukunft. Ach guck, "Ulysses": könnte man ja auch mal wieder lesen. Oder ein anderes unmöglich zu lesendes Buch, das einen ähnlich anstrengt und bereichert. Oder die Marathon-Medaille: bisschen laufen mal wieder? Vielleicht fünf Kilometer oder so? Du hast es doch mal gekonnt und sogar ein bisschen geliebt – warum also nicht wieder? Es steckt doch noch alles in dir, der Dinosaurier hat sich nur kurz zum Schlafen hingelegt. Und selbst das fadenscheinige Pudel-Kopftuch raunt: Du warst ein vergnügtes, unternehmungslustiges Kind mit tausend Flausen im Kopf.
Und du bist es noch. Lass es raus.