Thomas Leineweber* ist empört. Aufrecht neben seinem Verteidiger sitzend, Gericht und Nebenklage fest im Blick, sagt er mit bebender Stimme: "Mit Frau Beyer ist nicht einmal ansatzweise etwas passiert und an Frau Rose kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Wir reden von Frauen, die eine gewisse Vorgeschichte mitbringen, die Geschlechtskrankheiten hatten. Würden Sie es riskieren, eine Frau zu schwängern? Würden Sie so etwas tun, im laufenden Organisationsbetrieb, wo jederzeit jemand kommen kann? Dass ich meinen Berufsstand benutzt haben soll, um psychisch kranke Frauen zu missbrauchen, macht mich zornig und wütend. Ich habe mir nichts vorzuwerfen und werde kämpfen."
"Knackarsch" sollen die Patientinnen den durchtrainierten Brünetten mit den hervortretenden Augen und dem sorgfältig getrimmten Bart genannt haben. Anfang 2006 arbeitete er erst seit wenigen Monaten in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik der Charité - vor allem nachts, tagsüber studierte er Krankenpflegemanagement. Etwa zwanzig Frauen mit Persönlichkeitsstörungen wurden auf der Station 5 therapiert, unter ihnen auch Tina Beyer*.
Ohne Umschweife fragt er, ob sie mit ihm schlafen wolle
Sie wurde von ihrem Bruder missbraucht und hatte sich darüber mit Pfleger Leineweber unterhalten. Es war schon nach Mitternacht, als er sagte, er wolle testen, ab wann sie Angst bekommen würde. Leineweber führt die damals 23-Jährige in ein leerstehendes Patientenzimmer, verschließt die Tür von innen und steckt den Schlüssel in seine Hosentasche. Ohne Umschweife fragt er die Dunkelhaarige, ob sie mit ihm schlafen wolle. Sie lehnt ab und will auch nicht seinen Penis in den Mund nehmen. Sie habe nicht schreien können, sagt sie später den Richtern, sie habe keine Stimme gehabt. Starr vor Angst befriedigt sie ihn mit der Hand, während der Pfleger ihre Brust berührte und einen Finger in ihre Scheide führt. Nachdem Leineweber seine Hose wieder geschlossen hat, schärft er der Borderline-Patientin ein, sie solle niemandem davon erzählen, man würde ihr ohnehin nicht glauben.
Drei Monate später: Nadine Rose*, 19 Jahre alt, brünett, schlank, hübsch, auch sie eine Borderline-Patientin, freut sich, dass Leineweber ihr mehr Aufmerksamkeit schenkt als andere Pfleger. Eines Abends fährt er mit ihr in den Keller, zur wenig frequentierten Personaldusche. Dort zieht er sie aus, küsst, streichelt sie und hat ungeschützten Sex mit ihr. "Ich konnte mich nicht wehren", sagt sie später aus. Ein paar Tage später vergeht sich der Pfleger erneut an ihr: Er drückt sie auf eine Massageliege, zieht ihre Hose herunter und leckt ihre Scheide, während er ihre Hände festhält, mit denen sie ihn wegzuschieben versucht. Kurz danach betritt die junge Frau sein Dienstzimmer und bittet um eine Schlaftablette: Da habe er die Tür von innen abgeschlossen, Nadine Rose auf seinen Schoß gesetzt und wieder ungeschützten Sex mit ihr gehabt, so ihre Aussage.
Die Gerüchteküche brachte es ans Tageslicht
Durch die Gerüchteküche kam es heraus: Eine Patientin deutete einer anderen etwas an, die wiederum von einer Dritten bereits von dem Pfleger gehört hatte, der mit Patientinnen schlafen soll. Als die Stationsleitung erklärte, man gebe nichts auf dieses Gerede, ging Tina Beyer zur Polizei. Die dort vorgetragene Beschuldigung wurde in ihrer Krankenakte abgeheftet im Sinne von "Vorsicht vor dieser Patientin". Dennoch werden drei weitere Zeuginnen ermittelt.
Im Januar 2008 klingelt der Pfleger bei Nadine Rose: Er bittet und droht, sie solle ihre Anzeige zurücknehmen, dann hat er erneut Sex mit ihr. Die eingeschüchterte Frau wendet sich an die Staatsanwaltschaft, die Leineweber wegen Verdunkelungsgefahr in Haft schickt - für einen Tag.
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Der Angeklagte legt ein bockiges Geständnis ab
Wie glaubwürdig sind die Aussagen von Frauen, deren Krankheitsbild unter anderem mit einer erhöhten Neigung zur Interpretation beschrieben wird? "Das können sich die Zeuginnen nicht ausgedacht haben", sagt der Glaubwürdigkeitsgutachter. "Die Aussagen sind durch nichts als ein tatsächliches Ereignis zustande gekommen." Er nimmt aber auch den Angeklagten in Schutz: "Mit der Diagnose Borderline geht einher, unklare Botschaften auszusenden. Beide Frauen haben missverständliche Signale geäußert: Beyer Unbefangenheit und Rose Hilflosigkeit. Andere attraktive Frauen haben diese Signale nicht ausgesandt und wurden nicht zum Opfer. Man hätte ihn mehr auf seine Arbeit vorbereiten müssen."
Nach drei Verhandlungstagen, in denen zwei der Opfer stundenlang unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesagt haben, gewähren die Richter dem Angeklagten eine letzte Chance: Sollte er jetzt ein Geständnis ablegen, würde man die letzten drei in der Anklage aufgeführten Vorwürfe einstellen und ihn mit einer Bewährungsstrafe laufen lassen. Ein offenbar verlockendes Angebot. Der verheiratete, zweifache Vater lässt über seinen Verteidiger vortragen: "Die Anklagevorwürfe eins bis drei räume ich ein. Ich weise aber darauf hin, dass ich nicht davon ausging, gegen den Willen der Patientinnen zu handeln." Es ist ein bockiges Geständnis, eines ohne Unrechtsbewusstsein.
Leineweber blickt schmollend auf seine Schuhspitzen
Der Staatsanwalt ist zufrieden mit dieser Abkürzung des Prozesses. Die Aussagen der Frauen seien nicht umsonst gewesen. Auch die Einstellung der übrigen drei Tatvorwürfe schmerzt den Ankläger kaum: Sie hätten das Strafmaß nur unwesentlich erhöht. Dem Ankläger schweben 22 Monate Haft zur Bewährung und für jede Patientin 5000 Euro Schmerzensgeld vor, außerdem ein zweijähriges Berufsverbot für die Arbeit mit weiblichen Kranken. Während der Staatsanwalt das vorträgt, sitzt Leineweber schon längst nicht mehr aufrecht: Er hat sich vom Publikum weggedreht und blickt schmollend auf seine Schuhspitzen.
Die Anwältinnen von Tina Beyer und Nadine Rose halten den Deal nicht für angemessen: Ihre Mandantinnen seien um Jahre mit der Aufarbeitung ihrer Krankheit zurück geworfen worden, ihnen sei weder die Aussage noch das Glaubwürdigkeitsgutachten erspart geblieben. "Er hat sich mit einem Lippenbekenntnis eine Bewährungsstrafe ergattert", sagt Beyers Anwältin. Leineweber habe sich weder von seinen Taten distanziert, noch sich mit ihnen auseinandergesetzt. Die beiden Opfer wünschen ein lebenslängliches Berufsverbot: Nie wieder soll der Angeklagte einer anderen Frau so etwas antun können.
Leinewebers Verteidiger argumentiert, sein Mandant sei ohne jede Vorbildung in der Psychiatrie gelandet, wo er sich locker, distanzlos und unprofessionell verhalten habe. "Der Angeklagte ist kein reißender Wolf, der böswillig die Situation missbrauchte", sagt der Anwalt und fügt hinzu: "Leineweber hat das Therapieangebot um körperliche Zuwendung erweitert." Das trägt ihm verächtliches Saalgelächter ein und die Rüge des Vorsitzenden Richters, dieser Satz grenze an Schamlosigkeit.
Schwierigkeiten mit dem Angebot an Leineweber
Das Gericht hält sich an das Angebot, obwohl es schwer gefallen sei, dem Angeklagten ein solches zu unterbreiten, sagt der Richter: Zwei Jahre auf Bewährung wegen dreifachen sexuellen Missbrauchs von Kranken in Einrichtungen und sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses. Außerdem soll Leineweber je 5000 Euro an die Opfer zahlen, denen er sich nicht mehr als 100 Meter nähern darf.
Die Patientinnen hätten ihren Widerstandswillen nicht deutlich machen können, sagt der Richter. Er ist der Meinung: "Es sind in diesem Verfahren einige schwarze Peter zu verteilen. Ein besonders großer aber gebührt der Charité. Wie kann man bei dieser Klientel einen Pfleger mit so wenig Erfahrung einsetzen?" Obwohl das Gericht um die schweren psychischen Folgen für die Opfer weiß, will es kein Berufsverbot für den Pfleger verhängen, der von der Klinik immer noch - als Springer - beschäftigt wird: "Wir sind nicht davon überzeugt, dass er seinen Beruf weiter ausnutzt, um wieder solche Taten zu begehen."
* Namen von der Redaktion geändert