4912 Tage saß Manfred Genditzki im Gefängnis – für einen Mord, den er womöglich nicht begangen hat. Den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 2014, die US-Präsidentschaft Donald Trumps von 2017 bis 2021, die Jahrhundert-Sommer 2018 und 2019 oder die Corona-Pandemie ab 2020 – all das bekam der heute 62-Jährige nur hinter Gittern mit.
Nun ist er frei. Der Prozess gegen Genditzki wird am Landgericht München I wegen neuer Erkenntnisse neu aufgerollt. Am Ende des Verfahrens könnte für ihn der Freispruch stehen, für den er in den vergangenen Jahren gekämpft hat.
Justizopfer im Fall des "Badewannemords"?
Am Mittwochabend sprach der möglicherweise zu Unrecht Verurteilte erstmals bei stern TV über sein Leben in Freiheit: "Das kann man mit Worten gar nicht beschreiben, das ist wunderschön. Da kann man nur jeden Tag genießen", sagt er nach 4912 Tagen hinter Gefängnismauern, vergitterten Zellenfenstern und Stacheldraht.
13 Jahre und sieben Monate beteuerte er seine Unschuld – nur glauben wollte ihm all die Jahre fast niemand. Zumindest nicht die entscheidenden Personen in der bayerischen Justiz. Schließlich wurde er als Mörder verurteilt.
Am 12. Mai 2010 sprach die Schwurgerichtskammer Manfred Genditzki schuldig. Lebenslänglich. Zwar hob der Bundesgerichtshof das Urteil später auf, die neue Verhandlung endete aber wieder mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Manfred Genditzki blieb in der JVA Landsberg – bis zum 12. August 2022. Dann beschloss das Landgericht München I die Wiederaufnahme des Verfahrens und ordnete die sofortige Freilassung Genditzkis an. Ein erster Erfolg für den früheren Hausmeister und all jene, die ihn unterstützen.
Verurteilt wurde Manfred Genditzki wegen des Mordes an der 87-jährigen Lieselotte K. Die beiden lebten in derselben Wohnanlage in Rottach-Egern am Tegernsee. Er unterstützte die Rentnerin im Alltag. Beim Einkaufen, beim Kochen, bei der Wäsche. Er habe ihrem Mann vor dessen Tod sein Wort gegeben, erzählt er bei stern TV: "Dem hab ich versprochen, dass ich auf sie aufpass'. Das hat er mir gesagt: 'Wenn ich nicht mehr da bin, pass auf meine Frau auf.' Und da hab ich gesagt: 'Das mach ich.' Und das hab ich gemacht. Und das hab ich gerne gemacht."
Platz für 40.000 Insassen: Das ist El Salvadors neuer Mega-Knast

Am 28. Oktober 2008 verließ Genditzki gegen 15 Uhr die Wohnung von Lieselotte K. Um 18.30 Uhr entdeckte eine Altenpflegekraft die Leiche der Seniorin, voll bekleidet und in der Badewanne liegend – und Genditzki geriet ins Visier der Ermittler. Er habe sie im Verlauf eines Streits geschlagen und sie anschließend getötet, hieß es in beiden Schuldsprüchen. Der Fall machte als "Badewannenmord von Rottach-Egern" bundesweit Schlagzeilen – und Genditzki hielt daran fest, unschuldig zu sein. Beide Urteile waren von Anfang an höchst umstritten, viele Beobachtenden hatten mit einem Freispruch gerechnet, waren fassungslos.
"Es gab kein Motiv, keine Tatwaffe, keine DNA von Herrn Genditzki. Im Badezimmer gab es nur DNA von Frau K.", sagt Verteidigerin Regina Rick. "In der ersten Verhandlung, das war schlimm", erinnert sich Genditzki. "Da hab' ich gedacht, die Wahrheit interessiert keinen. Die zweite Verhandlung lief ähnlich, da haben wir so viele Sachen aufgedeckt, das hat keinen interessiert."
Wiederaufnahmeprozess soll Wahrheit ans Licht bringen
Regina Rick kämpfte jahrelang für die Wiederaufnahme, war sich sicher, Lieselotte K. sei durch einen Haushaltsunfall gestorben. Doch Erfolg hatte die Juristin vorerst nicht. Ein Wiederaufnahmeprozess ist in Deutschland an hohe Bedingungen geknüpft und diese sah das Gericht nicht als erfüllt an. Erst 13 Jahre nach dem ersten Urteil war es so weit. Zwei neue Gutachten wiesen darauf hin, dass der Ertrinkungstod der Seniorin tatsächlich ein Unfall gewesen sein könnte. Neue Erkenntnisse aus der Thermodynamik und eine biomechanische Computersimulation sollen belegen, dass es sich nicht so abgespielt haben kann, wie bisher angenommen.
Also ein Unfall, kein Mord? Das sollen die insgesamt 20 angesetzten Verhandlungstage klären. Für Regina Rick gibt es keinen Zweifel: "Das ist einer der größten Justizskandale der Nachkriegsgeschichte. Ich glaube nicht, dass es viele andere Fälle gibt, in denen jemand 13,5 Jahre zu Unrecht gesessen hat." Rick nannte zu Beginn des Wiederaufnahmeprozesses das Vorgehen der Justiz "skandalös", ging unter anderem die Staatsanwaltschaft und einen Gutachter an. Dieser habe nach einem Gespräch mit den Strafverfolgern sein Gutachten angepasst und erst dann angegeben, dass der Ertrinkungstod von Lieselotte K. nicht Folge eines Unfalls sein könne.
Manfred Genditzki wirkt nach der langen Zeit, in der er womöglich unschuldig im Gefängnis saß, vor Gericht ungebrochen. Die Haare des 62-Jährigen sind ergraut, aber seine Stimme ist fest, und die Gedanken sind klar. Ein "Auf und Ab der Gefühle" habe er in Haft durchlebt – aber nie habe er sich etwas antun wollen.
Seine Doppelhaushälfte, die er mit einem Freund gebaut hat, ist weg. Niemand konnte mehr die Raten bezahlen. "Ja, das war schön, ein Projekt von mir, das habe ich mit Herz gemacht, aber da muss ich nicht jammern, was weg ist, ist weg", sagt er zu stern TV. Sollte er freigesprochen werden, steht ihm eine Entschädigung zu: 75 Euro pro Tag, insgesamt 368.400 Euro. Sein altes Leben wird er davon nicht zurückbekommen.
4912 Tage hat Manfred Genditzkis Frau zu ihm gehalten. "Wir müssen auch wieder zu uns finden. Ich werde jetzt nicht alles rosarot reden, das ist es nicht. Wir sind dabei, ich liebe meine Frau über alles", sagt er. Genditzki hat im Gefängnis nicht nur die Fußball-WM, Trumps Präsidentschaft oder Corona verpasst, sondern auch den Abschied von seiner verstorbenen Mutter, das Aufwachsen seiner Kinder – und die Geburt seiner Enkelkinder. "13 Jahre und sieben Monate, die sind einfach weg. Die kann man so schnell nicht aufholen."
Die ganze stern TV-Sendung können Sie hier bei RTL+ sehen.