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Fritzl-Prozess Herrschaft, Dominanz, Besitz

Überraschung im Gerichtssaal von St. Pölten: Josef Fritzl hat im Inzest-Prozess von Amstetten die Schuld übernommen - auch für Mord und Sklaverei. Angeklagt ist ein Mann, der in völlig gestörten Familienverhältnissen aufwuchs. Zum ersten Mal gab er sich reuevoll.
Von Christian Parth, St. Pölten

Mit Überraschungen haben die Journalisten in St. Pölten inzwischen zu leben gelernt. Zuerst wurde der Prozess um Inzest-Vater Josef Fritzl kurzerhand um einen Tag verkürzt. Und nachdem es hieß, bis zum Urteil am Donnerstag sei die Öffentlichkeit ausgeschlossen, war sie heute doch wieder zugelassen. Und so beginnt auch der heutige Tag mit einem Paukenschlag. Kurz nach neun Uhr am Vormittag, draußen zieht ein Sturm über St. Pölten, gesteht Josef Fritzl alles.

Er bekennt sich nun auch der Sklaverei schuldig und des Mordes durch Unterlassung am Zwillingsbaby Michael, das im Jahr 1998 zwei Tage nach der Geburt verstarb. Im Schwurgerichtssaal des Landgerichts sitzen verblüffte Reporter. Damit hatte keiner gerechnet. Den Mordvorwurf hatte Fritzl schließlich stets weit von sich gewiesen.

Josef Fritzl hat am dritten Prozesstag seinen Panzer abgelegt. In den Saal kommt er heute ohne blauen Aktenordner vor dem Gesicht, er geht aufrecht, zeigt, wer er wirklich ist. Ein alter Mann nämlich mit grauem, zurückgekämmtem Haar und grauem Schnäuzer, der seiner Tochter E. und den sieben Kindern, die er mit ihr zeugte, Grausames angetan hat. Zum ersten Mal vermittelt er den Eindruck von Reue. Nach seinem Geständnis fragt die vorsitzende Richterin Andrea Hummer verblüfft: "Herr Fritzl, wie kommt es zu diesem plötzlichen Sinneswandel?" Der Angeklagte sitzt in seinem Stuhl, wieder blaues Hemd, schwarze Krawatte, hellgraues Sakko und antwortet: "Ich habe es einfach übersehen. Ich dachte, der Kleine wird überleben. Ich bekenne mich dazu."

Einblicke in das Innerste des Josef Fritzl

Ausschlag für das Geständnis habe das elfstündige Video von der Vernehmung der Tochter E. gehabt, das den Geschworenen gezeigt wurde, sagt der Angeklagte. Auch E. selbst soll gestern zugegen gewesen sein. Sie wolle ein Buch schreiben, heißt es, und brauche dazu auch Eindrücke von der Verhandlung. Die Aussagen seiner Tochter hätten ihn erschüttert, er habe nun begriffen, was er "durch mein krankhaftes Verhalten" angerichtet habe. Zum Tod des Säuglings sagt er immer wieder: "Ich hätte es erkennen müssen. Aber ich war der Hoffnung, dass er überlebt." Die Richterin will wissen, ob er, der immer alles präzise geplant hatte, von der unvorhergesehenen Situation überfordert worden war. "Das ist schon möglich", erwidert Fritzl kleinlaut.

Die Psyche des Täters steht im Mittelpunkt des dritten Prozesstages. Gutachterin Adelheid Kastner trägt die Analyse ihrer Gespräche mit dem Täter vor. Sie erklärt ihn für voll schuld- und zurechnungsfähig. Es ist ein packender Einblick in das Innerste des Josef Fritzl, den sie als Vulkan bezeichnet. Ein Mensch, der nach außen perfekt das Bild des charmanten und fleißigen Geschäftsmann gepflegt habe, in dessen Tiefen aber das überdimensionale Verlangen brodelte nach "Herrschaft, Dominanz, Besitz". Ein Mensch, der zu solche Dingen in der Lage ist, sei aber nicht krank, stellte Kastner den Geschworenen zugewandt klar. "Wer krank ist, kann eine solche Tat mit all ihrer Logistik nicht über so viele Jahre durchhalten." In einer überaus überzeugenden Argumentation erklärte die Psychiaterin die Ursachen für Fritzls Handeln.

Josef Fritzl wächst auf in völlig gestörten Familienverhältnissen. Schon die Ehe zwischen den Großeltern ist geprägt von Demütigungen und Gewalt. Die Oma ist unfruchtbar und so bringt der tyrannische Großvater ein außereheliches Kind in die Partnerschaft, Fritzls Mutter. Auch ihr Männerbild wird geformt von Gewalt und einem herrschsüchtigen Vater. Fritzls Mutter heiratet, kann mit dem Mann jedoch kein Kind zeugen. Er trennt sich. Von nun an will sie der Welt nur noch den Beweis erbringen, erklärt Kastner, dass sie nicht unfruchtbar ist. Sie besorgt sich einen Ersatzerzeuger, wird schwanger und gebiert Josef Fritzl. "Er war ein Beweiskind. Doch kaum war es da, wurde es für die Mutter zur Kalamität, zur Belastung", sagt Kastner. Der Knabe leidet unter einer Vorhautverengung, kann nicht urinieren. Zwei Tage lässt sie das schreiende Kind liegen, ohne Medikamente oder ärztliche Hilfe.

Fritzl weiß, dass er kein Verständnis erwarten kann

Im Schwurgerichtssaal sitzt Fritzl auf der Bank vor seinem Verteidiger, die Beine übereinander geschlagen, die Hände im Schoß gefaltet. Seinen Blick hat er starr zu Boden gerichtet. Er erkennt die Parallelen zu seiner eigenen Tat selbst. Aber er weiß auch, dass er trotz seiner widrigen Lebensgeschichte nicht auf Verständnis hoffen darf.

Fritzl selbst gerät im Kindesalter in völlige Abhängigkeit der Mutter, die immer wieder für mehrere Tage verschwindet. Die Beziehung zu ihr besteht nur noch aus Angst. Angst vor der Mutter, die ihn schlägt, bis er blutend am Boden liegt. Angst davor, dass sie eines Tages nicht zurückkehrt zu ihrem einzigen Kind. Der leibliche Vater, ein Spielzeugmacher, taucht nur hin und wieder mal auf. In der prägenden Phase der Kindheit, erklärt Kastner, habe Fritzl nicht die Fähigkeit entwickeln können, "sich in andere einzufühlen, zu lieben." Er hat gelernt, seine Gefühle "ganz tief in den Keller zu schieben, wo er keinen Zugang mehr hat". Nur eines habe er irgendwann festgestellt: "Ich bin gescheit, ich kann was aus mir machen."

Er schwänzt die Schule, um zuhause zu lesen, in eine andere Welt abzutauchen. Und genau hier passiert eines Tages der entscheidende Wandel. Fritzl, 13 Jahre alt, wird beim Schwänzen von seinem Lehrer im heimischen Garten erwischt. Doch statt Maßregelung bringt der Lehrer ihm Verständnis entgegen. "Er erlebte das erste Mal Fürsorge und sagte sich, ab heute lasse ich mich nicht mehr schlagen", erläutert Kastner.

Fritzl braucht ein Opfer aus der eigenen Familie

Von nun an dreht er den Spieß um. Er selbst ist vom Wunsch beseelt, einen Menschen ganz für sich allein zu besitzen, jemand, der nicht geht, den er nicht verlieren kann. Dann kommt der sexuelle Trieb dazu. Doch mit seiner späteren Frau R., die er zu einer Gebärmaschine degradiert, kann er das nicht ausleben. Er vergewaltigt eine fremde Frau, kommt 18 Monate ins Gefängnis und merkt, dass ist der falsche Weg. Denn seine erfolgreiche Karriere als Geschäftsmann will er nicht aufs Spiel setzen. Wenn er es tut, muss es im Verborgenen bleiben. Ihm wird klar, er braucht ein Opfer aus der eigenen Familie. Fritzl flüchtet sich zunächst in eine Phantasie. "Es ist für ihn befreiend, es sich vorzustellen, aber es nicht tun zu müssen", sagt Kastner.

Lange ringt er mit sich selbst, mit seinen zwei Wesen, wie Kastner sagt. Das eine, das ihm Anstand gebietet, das andere, das nach Macht und Ausübung seiner sexuellen Begierden schreit. Am 29. August 1984 lockert er schließlich die Zügel seiner Selbstkontrolle. Er gibt seinen Allmachtsphantasien nach, betäubt und sperrt Tochter E. ein. Die beiden Welten, oben und unten, lernt er schnell voneinander zu trennen. "Wenn im Keller die Tür zugeht, geht sie auch in seinem Kopf zu", erläutert Kastner. Es gebe nur zwei Phasen, in denen er geplagt werde. Morgens, wenn er aufstehe und abends beim Zubettgehen.

"Warum aber ausgerechnet E.?", will Fritzl-Verteidiger Rudolf Mayer wissen. In dieser Zeit drohte sie ihm zu entgleiten, entgegnet Kastner. Vor allem aber, weil sie ihm am ähnlichsten sei. Stark wie er und stur wie er. "Das war eine Herausforderung", erklärt die Gutacherin. "Je stärker der Gegner, desto größer der Sieg."

Kastner empfiehlt dem Gericht, Josef Fritzl in eine Anstalt für geistig abnorme Straftäter einweisen zu lassen, wo er auch therapiert werden könne. Sie hält ihn noch immer für gefährlich. Seine Begierden nach Macht und Dominanz seien erstaunlicherweise auch im hohen Alter von 73 Jahre nicht abgeflaut. Ob es denn überhaupt eine Heilungschance für ihn gebe, fragt Richterin Hummer. Kastner sagt: "Das kann man nicht wissen, aber es gibt keine andere Möglichkeit."

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