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Amoklauf bei Zeugen Jehovas Deutlich mehr Warnungen vor Waffenbesitzern – vertraulicher Bericht entlarvt Behörden-Defizite

Hamburgs Innensenator Andy Grote und Polizeipräsident Ralf Martin Meyer auf der Pressekonferenz
Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD, l.) und Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (M.) auf der Pressekonferenz nach dem Amoklauf bei den Zeugen Jehovas
© Christian Charisius / DPA
Die Amoktat eines psychisch kranken Sportschützen hat in Hamburg offenbar einen Anstieg bei Warnungen ausgelöst. Zuletzt gingen 33 Hinweise zu Waffenbesitzern ein – viel mehr als sonst

Unter dem Eindruck der Amoktat bei den Zeugen Jehovas im März dieses Jahres kommen in der Hamburger Waffenbehörde offenbar deutlich mehr Hinweise auf fragwürdigen Waffenbesitz an als früher. Zahlen hierzu gehen aus einer parlamentarischen Anfrage der Fraktion Die Linke an den Hamburger Senat hervor. Danach befasste sich die Behörde seit 15. März mit insgesamt 33 Hinweisen. Üblicherweise wird in solchen Fällen die Waffentauglichkeit der jeweiligen Personen erneut überprüft.

Die wenigsten Hinweise kommen anonym in den Behörden an: Von den 33 Fällen aus jüngerer Zeit trifft dies auf drei zu. In zwei Fällen sei die Erlaubnis zum Waffenbesitz bereits widerrufen worden, zwei weitere Personen hätten Lizenz oder Waffen mittlerweile freiwillig zurückgegeben, so der Senat.

Neun Fälle in 18 Monaten vor Hamburger Amoklauf

Vor dem Amoklauf wurden nach stern-Informationen deutlich weniger Hinweise registriert. So listet eine polizeiinterne Aufstellung für die 18 Monaten vor der Tat lediglich neun entsprechende Fälle auf, wobei sich die einzigen drei anonymen Hinweise hier auf ein und dieselbe Person bezogen. Allerdings sind die Zahlen nur eingeschränkt vergleichbar. Damals habe es noch keine "valide statistische Erhebung" gegeben, gibt der Senat zu.

Am Abend des 9. März hatte der 35-jährige Philipp F. in einer Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg sieben Menschen und sich selbst getötet. Er war als Mitglied in einem Sportschützenverein legal im Besitz der Tatwaffe, einer Pistole der Marke Heckler & Koch, gewesen. Im Vorfeld hatte ein naher Verwandter in einem anonymen Brief an die Hamburger Waffenbehörde eindringlich vor Philipp F. gewarnt und auch explizit auf dessen Verfolgungswahn sowie eine religiös getriebene Wut hingewiesen.

Der Fall löste eine breite Diskussion über Waffenbesitz und die notwendigen Kontrollen aus. Der Innenausschuss der Hamburger Bürgerschaft beschäftigte sich in zwei Sitzungen mit möglichen Versäumnissen der Ämter, Innensenator und Polizeipräsident stehen unter Druck. Denn der Umgang mit dem anonymen Warnbrief war unzureichend. Als Reaktion auf das Schreiben hatten zwei Behördenmitarbeiter – in Hamburg handelt es sich um eine Dienststelle der Polizei – F. zu Hause aufgesucht, abgesehen von einer einzelnen herumliegenden Patrone jedoch keine Auffälligkeiten festgestellt. Psychologische Expertise war nicht angefordert worden, weitere Anhaltspunkte auf eine Erkrankung wurden ignoriert. F. wurde die Waffe gelassen und die Sache zu den Akten gelegt.

Hamburger Waffenbehörde in der Kritik

Bislang stellt sich die Innenbehörde öffentlich vor ihre Waffenzulassungsstelle. Ihr Handeln sei zwar unglücklich und verbesserungswürdig gewesen, ließ Innensenator Andy Grote wissen, es habe jedoch üblichen Standards entsprochen.

In seiner parlamentarischen Anfrage an den Senat fordert Deniz Celik von den Linken nun zudem Informationen zu möglichen organisatorischen Mängeln im Umgang mit Warnungen. Der Senat weicht dem aus. Dabei wurden intern sehr wohl Defizite festgestellt, wie nun ein als vs-vertraulich eingestufter Bericht, der dem stern vorliegt, bestätigt. Das 16-seitige Papier der Hamburger datiert auf den 31. März 2023. Es bemängelt vor allem fehlende Handlungsanweisungen sowie eine lückenhafte Dokumentation von Abläufen und Entscheidungen. Im Fall von Philipp F. habe es rückblickend "erkennbare Defizite bei der Aufgabenbewältigung" gegeben, heißt es hier. Zwar sieht der Prüfbericht der Fachaufsicht keine konkreten Verstöße gegen Dienstvorschriften, dies aber auch deshalb, weil die Waffenbehörde in all den Jahren schlicht keine entsprechenden Vorgaben für Mitarbeiter für den Umgang mit anonymen Hinweisen geschaffen hatte. Zudem moniert der Bericht das Fehlen einer schriftlichen Abschlussverfügung nach Überprüfung von Philipp F.. Das sei selbst bei hoher Arbeitsbelastung als "nicht adäquat" einzustufen.

Den letzten Punkt räumt der Senat nun immerhin auch öffentlich ein. "Das Ergebnis der waffenrechtlichen Prüfung ergibt sich aus den Unterlagen der Waffenakte, ein gesonderter Abschlussvermerk wurde nicht gefertigt", heißt es in der Antwort auf die parlamentarische Anfrage. Innensenator Grote kündigte mittlerweile Verbesserungen in den Arbeitsabläufen an.

Kritik am Vorgehen der Waffenbehörde bei der Beurteilung von Philipp F. kommt zudem aus Fachkreisen. "Von Laien wahrgenommene Hinweise auf psychische Erkrankungen sind in hohem Maße unzuverlässig", sagt Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde auf stern-Anfrage. Hintergrund: Nach ihrer Stippvisite bei Philipp F. hatte eine Kommissarin eine Notiz zu den Akten gegeben, wonach es für sie "keinerlei Hinweise" auf eine psychische Erkrankung gegeben habe. "Aus diesen Hinweisen eine Diagnose machen, kann nur ein Arzt", sagt Psychiatrieprofessor Pollmächer.

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