Michael Wolpert wollte sich am kommenden Wochenende seiner Familie widmen. Vielleicht spazieren gehen. Auf andere Gedanken kommen. Mal nicht an die elf Leitzordner mit den Ermittlungsergebnissen und die mehrere tausend Seiten umfassenden Prozessakten denken, die auf seinem Schreibtisch liegen. Doch der 53-Jährige gibt zu: "So einen Prozess hat man immer im Hinterkopf." Auf den Vorsitzenden Richter am Landgericht Frankenthal kommt ein unruhiges Wochenende zu. Denn in den kommenden Tagen muss er zu einem Urteil in einem äußerst bizarren, komplexen und emotional aufgeladenen Verfahren kommen.
Wolpert muss zusammen mit seinen zwei Richterkollegen und zwei Schöffen bis kommenden Montag entscheiden, wer Ende Januar 2008 im hessischen Heppenheim drei georgische Autohändler getötet hat.
Eine enorm schwierige Aufgabe, die durch die Plädoyers der Anklage und der Verteidigung am Dienstag noch kniffliger geworden ist. Denn Staatsanwaltschaft und die beiden Verteidiger der Angeklagten Talib O. und Ahmed H. präsentierten drei grundsätzlich verschiedene Tatversionen.
"Diese Darstellung ist abenteuerlich und abwegig", "Diese Tatversion hinkt, sie ist falsch und widersprüchlich", "Diese Schilderung ist völlig unhaltbar, eine angerührte Suppe" - drei Aussagen, die in diesen Plädoyers gefallen sind. Sie stammen nicht etwa von einer Person, nein, sie stammen von drei unterschiedlichen. Wäre der Anlass nicht so ernst, könnte man von einem kuriosen Schauspiel sprechen, welches Wolpert und seinen Richterkollegen dargeboten wurde. In den Hauptrollen: Gerhard Härdle, der Verteidiger des Somaliers Ahmed H., und Stefan Allgeier, Anwalt des Deutsch-Irakers Talib O., darüber hinaus Staatsanwalt Lutz Pittner.
Mord beim Schafstall
Alle drei versuchten vor Gericht darzulegen, was ihrer Ansicht nach vor rund einem Jahr an einem Schafstall in Heppenheim geschehen ist - ohne Zeugen dafür zu haben. Unbestritten ist folgendes: Am 30. Januar 2008 bietet der Autohändler Talib O. in Ludwigshafen den drei Georgiern Pavle Egadze, Giorgi Gabroshvilli und Spartak Arushanov einen Mercedes zum Kauf an. Die vier Personen treffen sich am späteren Nachmittag wieder, um sich das Auto gemeinsam anzuschauen. Auf der Fahrt zu dem Mercedes holen sie den Somalier Ahmed H. ab. Pikant: Der 40-jährige Talib O. ist als Spitzel der Polizei eingesetzt, um den heute 27-jährigen H. zu beschatten, der als hochrangiger Terrorverdächtiger gilt.
Zusammen fahren die fünf Männer zu dem Schafstall, inzwischen ist es 18:30 Uhr und stockdunkel. Auf dem abgelegenen Gelände werden zwei der Georgier durch Kopfschuss getötet, einer wird erdrosselt. Anschließend landen die Leichen im Altrhein bei Mannheim. Das Geld der Georgier, mehr als 10.000 Euro, teilen sich Ahmed H und Talib O. wohl auf. So weit die Fakten. Die dürftigen Fakten.
Völlig offen hingegen ist, wie es überhaupt zu dieser Tat kam. Gab es einen Plan dafür? Und wenn ja, wer hat ihn initiiert? Wer hat wen getäuscht? Wer hat wen bedroht? Und natürlich: Wer hat die drei Georgier wie getötet?
Staatsanwalt Pittner blieb in seinem Plädoyer bei der Ansicht, die er schon in seiner Anklage formuliert hatte: Ahmed H. und Talib O. hatten einen gemeinsamen Plan, sie handelten gemeinsam und sie töteten gemeinsam. Pittner forderte, wie auch die Vertreterin der Nebenklage, lebenslange Haft für die beiden Angeklagten und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld: "Es war ein gemeinschaftlicher Mord in drei Fällen. Es war der klassische Raubmord, eine Hinrichtung. Die Angeklagten hatten keinen Respekt vor dem Leben."
"Ein skrupelloser und kalter Mensch"
Eine Einschätzung, die von beiden Verteidigern bestritten wurde. Härdle setzte sich in seinem über zweistündigen Plädoyer vehement für die Tatversion seines Mandanten Ahmed H ein. Der auf ihn angesetzte V-Mann, ein "skrupelloser und kalter Mensch", habe die drei Georgier alleine auf dem Gewissen. Niemand bestreite, dass Talib O. aus Habgier gemordet habe. "Mein Mandant aber hat keinen der drei getötet. Er ist von den Vorwürfen freizusprechen." Härdles Kollege Allgeier, der sich ebenfalls fast zwei Stunden für seinen Vortrag nahm, kam zu demselben Schluss für seinen Mandanten. Der sei freizusprechen, denn Ahmed H. habe den Dreifachmord begangen, unterstützt von zwei Vermummten, aus islamistischen Rachegefühlen gegenüber den christlichen Georgiern. "Aber Talib O. hat niemanden getötet."
So verschieden sie in ihren Schlussfolgerungen waren, so ähnlich agierten die drei Juristen bei der Begründung ihrer jeweiligen Version. Beinahe jeden Aspekt der Tat, der Handlungen und Äußerungen der Beteiligten, der Tage davor und danach interpretierten sie in ihrem Sinne, stellten sie als die einzig logische Variante dar und wischten die anderen Ansichten als unglaubwürdig vom Tisch.
So etwa bei den genauen Umständen der Ermordung. Ahmed H. will wie gelähmt vor Angst am Auto gestanden haben, während der Iraker einige Meter entfernt einen der Männer erdrosselte und zwei der Georgier erschoss. Die Erschießungen schilderte H. nach Ansicht eines Gutachters allerdings sehr glaubwürdig und ziemlich realistisch. Zu realistisch, obwohl es zu diesem Zeitpunkt stockdunkel war, meinte der Staatsanwalt, "Täterwissen" nannte dies Pittner. Der Somalier habe nicht etwa teilnahmslos daneben gestanden, sondern die beiden Georgier erschossen. Um seine Tatbeteiligung zu leugnen, habe Ahmed H. seine Person durch die von Talib O. ersetzt.
Selbstbewusster Verteidiger
"Hoch spekulativ" sei diese Schlussfolgerung, sagt dagegen Gerhard Härdle. Man könne Ahmed H. doch nicht vorwerfen, dass er Tatsachen schildere. "Wenn mein Mandant die Tat falsch dargestellt hätte, würde man ihn als unglaubwürdig einschätzen. Und wenn er sie richtig schildert, wird er zum Täter", sagte Härdle und blickte mit wütender Miene in Richtung des Staatsanwalts. "Sie lassen einen Angeklagten wirklich verzweifeln."
Selbstbewusst trat Stefan Allgeier auf, als er seinerseits den angeblichen Tatablauf schilderte. Obwohl an der Tatversion seines Mandanten im Verlauf der bisherigen 13 Prozesstage die meisten Zweifel angemeldet wurden. Vor allem, weil es für die Existenz der beiden vermummten Helfer keinerlei Beweise gibt.
Wie der Staatsanwalt warf auch Allgeier dem Somalier Ahmed H. vor, mit seinen Aussagen Täterwissen offenbart zu haben. Aber keineswegs habe sein Mandant den dritten Georgier erdrosselt, wie es sowohl die Staatsanwaltschaft wie auch Gerhard Härdle vorgetragen hatten. Die zwei Vermummten, die von Ahmed H. vor der Abfahrt nach Heppenheim alarmiert worden seien, hätten dem Somalier geholfen. Nur so habe Ahmed H. auch den dritten Georgier durch Erdrosselung töten können. Sein Mandant dagegen habe vor Angst wie gelähmt nur zuschauen können.
"Ich habe sie nicht getötet"
Nun ist es an den Richtern, die Aussagen, die Indizien und Fakten zu bewerten. Eines scheint klar: Nur die beiden Angeklagten kommen als Täter in Frage, beiden drohen lange Gefängnisstrafen. Denn Richter Wolpert und seine Kollegen müssen ihnen für die Verurteilung wegen Mordes nicht haarklein nachweisen, in welcher Form sie an der Tötung der drei Georgier beteiligt waren. Sprich: Die Richter können gegen beide Angeklagte die Höchststrafe verhängen, sollten sie zu dem Schluss kommen, dass Ahmed H. und Talib O. den Mord beide gewollt haben und beide an der Ausführung beteiligt waren. Egal, wer nun für die eigentliche Tötung verantwortlich war. Denn auch, wer die Opfer anlockt und täuscht, bei der Beseitigung der Leichen oder der Vertuschung der Tat mitmacht, kann als Mörder verurteilt werden. Und selbst wenn das Gericht bei einem der beiden nur auf Beihilfe erkennt, droht demjenigen eine bis zu 15-jährige Haftstrafe.
Ein Schicksal, dass sowohl Ahmed H. als auch Talib O. nach ihrer Ansicht nicht verdienen. In ihren Schlussworten führten sie nahtlos die Strategie ihrer Verteidiger fort. Es tue ihm leid, lässt Talib O. von seinem Dolmetscher sagen. Es tue ihm leid, "dass ich den Männern nicht helfen konnte und ihre Leben retten konnte".
Schluchzend trägt Ahmed H. seine Entschuldigung vor. Er habe zu viel Angst vor dem Mitangeklagten gehabt und nichts tun können, um den drei Georgiern zu helfen. "Ich wollte mich nicht bereichern. Ich habe sie nicht getötet."