Berlin, Lünen, Kandel und zuletzt Flensburg - blutige und tödliche Messerattacken haben in den vergangenen Monaten immer wieder die Republik erschüttert. Den Taten gemeinsam: Unter Tatverdacht stehen jeweils junge Männer, zum Teil Jugendliche.
Den Taten ebenfalls gemeinsam: Im Anschluss kochte die Diskussion über Jugendgewalt in Deutschland hoch, die Fälle riefen in regionalen und überregionalen Medien ein breites Echo hervor und in den sozialen Netzwerken machten sich Empörung und Besorgnis breit: Sind Jugendliche in den letzten Jahr immer krimineller geworden? Sitzt das Messer lockerer als früher? Steigt die Jugendgewalt?
Nur Berlin verzeichnet Messerattacken in Statistik

Messerattacken durch Jugendliche
Ob immer häufiger das Messer gezückt wird, geht aus den Statistiken nicht hervor. Berlin ist das einzige Bundesland, das seit mehreren Jahren das "Tatmittel Messer" explizit in seiner Kriminalitätsstatistik verzeichnet. Danach sank in Berlin die Anzahl der Jugendlichen und Heranwachsenden, die verdächtigt wurde, mit einem Messer Straftaten gegen das Leben, Sexualdelikte und Rohheitsdelikte begangen zu haben von 458 im Jahr 2010 bis auf 352 im Jahr 2014; erst 2015 (413 Verdächtige) und 2016 (429) wurde ein Anstieg verzeichnet. Die Zahl der Tötungsdelikte mit einem Messer in der Haupstadt ist im selben Zeitraum von 63 auf 26 deutlich gesunken. Auf die übrigen Bundesländer lassen sich die Zahlen nicht übertragen.
Die Zahlen und Statistiken widersprechen dem Bild einer immer krimineller und gewalttätiger gewordenen Jugend. Insgesamt ermittelten die Behörden 2016 rund 2,3 Millionen Tatverdächtige zu Straftaten, davon waren gut 440.000 Jugendliche und Heranwachsende im Alter von 14 bis unter 21. Das entspricht einem Anteil von knapp 19 Prozent an allen Verdächtigen. Der Blick auf die Polizeilichen Kriminalitätsstatistiken des Bundeskriminalamtes der vergangenen Jahre zeigt: Der Anteil Jugendlicher oder Heranwachsender an allen Verdächtigen ist weitgehend konstant, mit zuletzt leicht rückläufiger Tendenz.
Jahr | Anteil an allen Verdächtigen | Anzahl Tatverdächtige zwischen 14 und 21 Jahren |
2010 | 20,8 % | 448.307 |
2011 | 19,9 % | 419.227 |
2012 | 19 % | 396.512 |
2013 | 18,1 % | 378.875 |
2014 | 17,8 % | 382.641 |
2015 | 19 % | 449.451 |
2016 | 18,7 % | 441.890 |
Zum Vergleich: Der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung beträgt derzeit etwa sieben Prozent - das bedeutet: Unter den Verdächtigen sind 14- bis 20-Jährige seit je her überrepräsentiert.
Auch schwere Jugendkriminalität sinkt
Auch schwere Gewalttaten junger Menschen werden immer seltener. So erklärte Kriminologe Christian Pfeiffer nach dem gewaltsamen Tod eines 14-Jährigen in Lünen im Januar, alle Statistiken zeigten, dass Tötungsdelikte von Jugendlichen extrem rückläufig seien. "Egal welche Statistik wir nehmen: Wir gelangen zu der Einschätzung, dass Tötungsdelikte durch junge Menschen eine extreme Ausnahme werden." Für diese Entwicklung gebe es stabile Hintergrundfaktoren, so Pfeiffer, der zum Beispiel auf den drastischen Rückgang des elterlichen Schlagens verwies. Ein Blick auf ausgewählte Straftaten verdeutlicht Pfeiffers Einschätzung:
Jahr | Verurteilte Jugendliche und Heran- wachsende wegen Straftaten gegen das Leben | ... wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung | ... gefährlicher Körper- verletzung |
2010 | 145 | 1046 | 14.011 |
2011 | 110 | 1095 | 12.872 |
2012 | 105 | 1023 | 10.741 |
2013 | 88 | 904 | 8477 |
2014 | 79 | 917 | 6906 |
2015 | 69* | 904 | 6114 |
* In einer ersten Version des Artikels war 26 angegeben. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
Große Aufmerksamkeit für einzelne Taten
Warum trotz der rückläufigen Fallzahlen bisweilen das Gefühl einer immer brutaleren Jugend entsteht, erklärt Kommunikationswissenschaftler Hans-Bernd Brosius von der Ludwig-Maximilians-Universität in München im stern-Interview, das Sie hier lesen können: