Prozessbeginn im Kraillinger Doppelmord Protokoll eines grausamen Verbrechens

  • von Malte Arnsperger
Fast zehn Monate nach dem Kraillinger Doppelmord beginnt in München der Prozess. Thomas S. soll seine Nichten Sharon und Chiara aus Habgier brutal ermordet haben.

Wenn Anette S., Teilzeitkellnerin aus Krailling bei München, zur Arbeit ging, ließ sie die Türen ihrer Wohnung immer unverschlossen. Eine Vorsichtsmaßnahme, für den Fall, dass es mal brennen könnte. Sie wollte ihren Töchtern den Fluchtweg offen halten. Doch diese vermeintliche Achtsamkeit hat ihren Töchtern Chiara (8) und Sharon (11) in der Nacht zum 24. März 2011 das Leben gekostet. Denn ihr Mörder nutzte genau diese Vorsichtmaßnahme aus. Er kannte sich wohl aus im Haus. Es war laut Anklage der Staatsanwaltschaft der Onkel der Kinder, Thomas S., der ab 17. Januar in München vor Gericht steht.

Chiara und Sharon waren am Abend des 23. März alleine in der Wohnung ihrer Mutter, die gegen 22.30 Uhr in die Rockkneipe ihres Lebensgefährten Klaus P. gegangen war. So wie jeden Mittwoch. Doch Anette S. arbeitete länger als üblich im „Schabernack“. Erst gegen 4.45 Uhr lief sie die wenigen Schritte von der Kneipe zu ihrer Wohnung. Dort fand sie im ersten Stock Sharon, im Schlafzimmer im Obergeschoss Chiara. Beide tot. Der Mörder, stellten die Ermittler später fest, hatte seine Opfer mit einer Hantel erschlagen, mit einem Messer erstochen, eins der Kinder sogar noch erdrosselt. Von „Übertöten“ war danach die Rede, einem Übermaß an Gewalt.

Die Polizei fahndete per Hubschrauber und Wärmebildkamera nach dem Mörder, vernahm Gäste des „Schabernack“, suchte unter den Facebook-Kontakten der beiden Kinder nach Verdächtigen. Der Druck auf die Sonderkommission stieg, die Angst vor einem Serienmörder ging um. Am 1. April nahm die Polizei im 50 Kilometer entfernten Peißenberg den heute 51-jährigen Thomas S. vor seinem Haus fest. Just am Tag der Beerdigung von Chiara und Sharon. Damit bekam die Tragödie eine weitere dramatische Wendung.

"Die Situation scheint Thomas S. entglitten zu sein"

Von Anfang an hatten die Ermittler den Verdacht, dass Thomas S. seine Nichten aus Geldnot getötet haben könnte. Er befand sich tatsächlich in einer schwierigen Situation. Seine Ex-Frau machte ihm seit Jahren Druck wegen Unterhaltszahlungen für sie und die beiden Kinder aus erster Ehe. Seine zweite Frau Ursula bekam Krebs, eines der vier gemeinsamen Kinder ist schwer leberkrank.

Außerdem hatte er sich nach Ansicht der Ermittler mit dem Hausbau finanziell übernommen. Er hoffte auf den Verkauf einer Wohnung in Krailling, die seiner Frau Ursula und deren Schwester Anette gehört, der Mutter der beiden Mädchen. Thomas S. wollte seiner Schwägerin den Anteil verkaufen. 50.000 Euro habe er im August 2010 gefordert. Die Schwägerin habe aber nur maximal 45.000 Euro geboten, erinnert sich Ursula S. im Gespräch mit stern.de. Der Deal kam nicht zustande.

Offenbar war die finanzielle Lage der Familie aber gar nicht so aussichtslos, obwohl das halbfertige Haus in Peißenberg immer wieder von der Zwangsversteigerung bedroht war. Das meint zumindest Manfred Wölke, der Anwalt von Ursula S, zu stern.de „Die Unterlagen, die mir vorliegen, zeigen, dass finanziell es gar nicht so schlimm aussah. Es war nur alles sehr chaotisch und unorganisiert. Die Situation scheint Thomas S. entglitten zu sein.“

Also habe Thomas S. laut Staatsanwaltschaft einen perfiden Plan ausgeheckt. „Er wollte Anette S. und ihre beiden Töchter töten und dies dann als erweiterten Suizid tarnen, damit seine Frau zur Alleinerbin der Wohnung wird“, sagt Behördensprecherin Andrea Titz zu stern.de. Um diesen Plan zu verwirklichen, habe Thomas S. demnach Wochen vor der Tat ein Seil gekauft. Mit Seil und einer Hantel bewaffnet, habe er die Wohnung seiner Schwägerin betreten. Nach Erkenntnis der Ermittler wehrten sich die Kinder. „Es gab einen starken Todeskampf“, sagt Titz, deshalb habe Thomas S. nach einem Küchenmesser gegriffen.

Nach der Tat habe der Mann wohl noch eine Zeitlang auf seine Schwägerin gewartet und für seine Mordpläne sogar die Badewanne einlaufen lassen, sagt Titz. Der Mord an der Schwägerin aber sei gescheitert, denn um seine Arbeitsstelle im 20 Kilometer entfernten Feldafing rechtzeitig zu erreichen, habe er dann sein Vorhaben abbrechen müssen.

Angeklagter verstrickte sich in Widersprüche

Hals über Kopf. Denn die Polizei fand alle Tatwaffen in der Wohnung. An ihnen und an den beiden Opfern haftete umfangreiches DNA-Material. Es stammt nach Angaben der Staatsanwaltschaft von Thomas S., die Behörde ist sich deshalb sicher, mit Thomas S. den richtigen Mann angeklagt zu haben. Sein Anwalt wollte sich zu stern.de nicht äußern. Sein voriger Anwalt hatte im Frühjahr gesagt: „Mein Mandant hat noch nie eine Straftat begangen. Er wird eines fürchterlichen Verbrechens verdächtigt. Man sollte ihm ein faires Verfahren gönnen.“

In den Vernehmungen habe Thomas S. die Tat bestritten, sagt Staatsanwältin Titz. Er habe in jener Nacht geschlafen und sei früh morgens zum Arbeiten gefahren. Seine Frau Ursula S. hatte ihm nach der Festnahme zunächst ein Alibi gegeben. „Ich sagte, dass mein Mann in der Tatnacht mit mir eingeschlafen und später an meiner Seite aufgewacht sei“, hatte Ursula S. in einem stern-Interview erzählt. Doch schon bald seien ihr Zweifel gekommen, als die Polizei ihr von den DNA-Spuren und den finanziellen Problemen ihres Mannes erzählt habe.

Im Gespräch mit stern.de berichtet Ursula S. von einem weiteren Indiz gegen ihren Mann. Am Tatort sei eine Terpentinflasche gefunden worden. Ihr Sohn Florian habe diesen zerbeulten Behälter eindeutig identifiziert, da er ihn in den Wochen vor dem Mord mal fallengelassen hatte. Die Staatsanwaltschaft bestätigte stern.de den Fund der Terpentinflasche. „Mit der Flüssigkeit sollten wohl die Opfer betäubt werden.“

Der Angeklagte verstrickte sich immer mehr in Widersprüche. stern.de-Informationen zufolge hat Thomas S. kurz nach seiner Verhaftung aus dem Gefängnis an seine Frau geschrieben. Darin wischt er die ihn belastenden Indizien vom Tisch. Er glaube an zwei Täter. Zudem könne seine DNA auch von einer dritten Person an den Tatort gebracht worden sein. Und, so Thomas S., es gebe außer einer Spur keine DNA von ihm am Tatort. Der 51-Jährige hatte nach seiner Verhaftung über seinen ersten Anwalt erklären lassen, er habe bei einem Besuch in der Wohnung der Mädchen etwa zwei Wochen vor dem Mord Nasenbluten gehabt. Davon stamme das Blut am Tatort.

"Wahnsinnige Angst vor der Situation im Gericht"

Die Staatsanwaltschaft sei diesen Punkten nachgegangen, erklärt Sprecherin Titz. Hinweise auf eine weiteren oder einen anderen Täter, der die DNA des 51-Jährigen dorthin gebracht haben könnte, gebe es nicht, so Titz. Auch seine Frau sei nicht verdächtig. Zudem sei Thomas S. viele Wochen, vielleicht sogar Monate vor der Tat nicht mehr in der Wohnung in Krailling gewesen. Zudem habe man viele eindeutig tatrelevante DNA-Spuren des Angeklagten gefunden, sagte Sprecherin Titz. Auch haben die Ermittler an seinen Händen Schnittverletzungen festgestellt.

Seiner Frau graut es vor dem Prozess. Schließlich wird sie bei ihrer Zeugenaussage nicht nur ihrem Ehemann begegnen, von dem sie sich scheiden lässt. Sondern sie wird wohl auch auf ihre Mutter und vor allem auf ihre Schwester treffen, die Nebenklägerin ist. Mit den zwei Frauen habe sie seit der Verhaftung nicht mehr gesprochen, sagt Ursula S. „Ich habe wahnsinnig Angst vor dieser Situation im Gericht. Das wird Vollstress für mich. Und ich weiß nicht, ob ich es schaffe, auf meine Familie zuzugehen. Die halten mich doch immer noch für eine Mittäterin.“

Angst hat Ursula S. auch vor dem Urteil. Sie bittet die Richter um eine lange Haftstrafe für ihren Mann. Die Staatsanwaltschaft will nach derzeitigem Stand die besondere Schwere der Schuld feststellen lassen, sagt Sprecherin Titz. Wenn Thomas S. die Tat nachgewiesen wird und das Gericht dem Antrag folgt, könnte er frühestens nach 25 Jahren freikommen. Nicht genug für Ursula S. Sie fürchtet um ihr Leben.

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