Seit der Wochen diskutieren wir darüber, ob sogenannte Reichsbürger stärker vom Verfassungsschutz überwacht werden sollten. Ob es ein Fehler war, sie als skurrile Einzelgänger abzutun, die in ihrer Fantasiewelt leben. Haben wir die Gefahr unterschätzt?
Thomas Kliche: Ja, das haben wir. Denn die Fantasiewelt, in der diese Leute leben, ist nicht liebenswert skurril, sondern gediegen rechtsextrem, und das bedeutet immer auch: bösartig aggressiv. Die "Reichsbürger" haben eine Weltsicht, die unsere Rechtsordnung ablehnt und ihnen selbst unbeschränkte Handlungsfreiheit einräumt. Sie bietet die Rechtfertigung für Gewalt und Willkür im persönlichen Umfeld. Wenn Leute mit so einem Hintergrund Waffen besitzen, wie Wolfgang P., der in Franken den Polizisten erschossen hat, dann ist das immens gefährlich.
Dem Jäger Wolfgang P. sollten ja alle Waffen abgenommen werden, weil er nicht mehr als zuverlässig galt. Genau das hat dazu geführt, dass er auf die Polizei geschossen hat – mit den bekannten Folgen.
Ich kann in diesem Einzelfall nicht beurteilen, ob man da früher hätte einschreiten können. Ich bin aber grundsätzlich der Meinung: Jeder, der sich in der friedlichsten und gewaltfreiesten Gesellschaft, die Deutschland je hatte, eine Knarre zulegt, ist eine potenzielle Gefahrenquelle. Selbst ausgeglichene Menschen können unter dem Eindruck kritischer Lebensereignisse, zum Beispiel einer Scheidung, labil werden. Pulver – Funke – bumm! Wir haben eine drastisch niedrigere Mordquote als die USA und viel weniger Amokläufer, weil wir Waffen kontrollieren. Wir könnten – und müssten – es noch besser tun.
Nach allem, was man weiß, sind es überwiegend Männer, die sich zu "Reichsbürgern" erklären.
Das ist nicht erstaunlich. Die Ideen dieser Leute passen hervorragend zu einem uralten Männerideal: Der angeblich starke Mann verteidigt sein Gebiet, hat alles im Griff, lebt und entscheidet einsam, ohne einfühlendes Gelaber, heute mit Vielfliegerkarte statt Gaul und Laptop statt Colt.
Aber viele "Reichsbürger" bleiben dann ja doch nicht allein. Sie tauschen sich aus, sind mehr oder weniger eng vernetzt.
Je mehr Leute einen Standpunkt teilen, desto mehr wird er vom persönlichen Wahn, der in die Therapie führt, zur politischen Angst, die in Organisationen führt. Die Gruppe gibt das Gefühl: Hoppla, meine Sichtweise ist gar nicht so seltsam, ich gehöre nur zu einer verfolgten Minderheit. Wer Angst vor verschleierten Frauen und dem Islam hat, auch wenn es das gar nicht bei ihm gibt, geht zu Pegida. Weil es dort eine gemeinsame Gruppentheorie gibt, die seine Angst zum Teil eines riesigen geschichtlichen Ringens erklärt. Weil die Wir-Gruppe dort für toll erklärt wird und weil man dort auch böse Gefühle wie Hass und Wut ausdrücken darf.
Welche Rollen spielen die sozialen Medien dabei?
Sie beschleunigen die Gruppenfindung enorm und schaffen Gruppengrößen, bei denen auch sehr Seltsames nicht mehr auffällt. Da bilden sich Zwischenformen von Krankheitsbildern und sozialen Bewegungen. Wer 1990 seinen Kopf zum Schutz vor Strahlenmanipulation mit Alufolie eingewickelt hat, war als Psychotiker erkennbar. Heute kann so jemand im Internet Gemeinschaften von Gleichgesinnten finden und meint dann, einer weitsichtigen Elite anzugehören, die die Menschheit gegen Manipulation verteidigt. So funktionieren auch die "Reichsbürger", nur mit politischem Programm.
Wie hängen rechtes Gedankengut und Verschwörungstheorien zusammen?
Die "Reichsbürger" sind rechtsextrem, da gibt es wenig zu deuteln. Rechtsextremismus ist traditionell eine einzige riesige Verschwörungstheorie, weil er ein vermeintlich einheitliches Volk von schwer erkennbaren Feinden bedroht sieht, die hinter dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel stecken. Früher waren es die Weisen von Zion, das jüdischamerikanische Finanzkapital oder die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung. Heute sind es irgendwelche internationalen Kräfte, mit denen zum Beispiel die "Identitäre Bewegung" Angst vor einer "Umvolkung" verbreitet. Und natürlich ist da die Furcht vor dem Islam. Man erkennt immer wieder das gleiche Schema: Schwer greifbare, ungewollte, von außen kommende Entwicklungen, als deren Opfer Menschen sich erleben, werden einem Plan und konkreten Personen zugeschrieben. Überall lauern böse Kräfte, die das arglose eigene Volk angreifen, ausbeuten, in Fallen locken.
Gibt es Persönlichkeitstypen, die besonders anfällig sind für Verschwörungstheorien?
Darüber gibt es kaum Untersuchungen, aber grob kann man sagen: Die Anhänger von Verschwörungstheorien zeichnen sich aus durch geringere Verträglichkeit, höhere Abwehr von Veränderungen und Neuem und einen deutlichen Neurotizismus. Wichtiger als Persönlichkeitsmuster sind aber oft die Lebenslagen, in denen die Menschen sich befinden. Da stehen Erfahrungen von Misserfolg und Vereinsamung, von Ausschluss und Demütigung, auf die dann der Rückzug auf eine Gruppe folgt, die Rückhalt und Rechtfertigungen liefert. Im Grunde die Karriere vieler jugendlicher Islamisten.
Eine interessante Parallele. Doch nicht jeder Außenseiter wird zum Extremisten. Wodurch radikalisieren sie sich?
Das ist sehr individuell. Eine Jenaer Psychologengruppe hat das untersucht, als man in den 90er Jahren noch leichter an die Akten kam. Fast alle gewaltbereiten Rechtsextremen, mit denen die Forscher sich befassten, waren schon in der Kindheit aufgefallen, meist durch Aggressivität. Viele stammten aus gescheiterten Familien. Die Weltanschauung kam erst in der Pubertät dazu, die hat ihren Lebensproblemen höhere Weihen verliehen.
Wie funktioniert das?
Verschwörungstheorien, ob rechtsradikale oder andere, sind eine wundervolle Psychohygiene – und das aus vielen Gründen. Erstens machen sie die eigene Person und Gruppe zu etwas Besonderem. Man ist so wichtig, dass gewisse Kräfte einen heimlich verfolgen. Zweitens verkehren solche Theorien Opfer und Täter: Wer heimlich angegriffen wird, bekommt ein Recht auf Selbstverteidigung zugesprochen. Drittens stärken sie das Gruppengefühl: Wir werden alle angegriffen, wir sind eins. Viertens erleichtern sie es, die oft furchterregende Zufälligkeit des Schicksals auszuhalten. Es ist für viele leichter, sich eine Welt böser Geheimbünde oder inkompetenter Politiker vorzustellen, als eine Welt voller schwer greifbarer, verstrickter wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge und zufälliger Schicksalsschläge. Fünftens liefert die Verschwörungstheorie eine Begründung für Misserfolge, die das Selbstbild schützt: Grund meines Scheiterns war nicht mein Versagen, sondern es waren die Aktivitäten der Drahtzieher im Hintergrund. Und insgesamt erleichtert eine Verschwörungstheorie die Anstrengung des Denkens, weil sie gegen Tatsachen immunisiert. Was mir nicht passt, ist "Lügenpresse".
"Reichsbürger" und ihre Geistesverwandten passen also hervorragend in unser sogenanntes postfaktisches Zeitalter – in eine Zeit, in der das Ignorieren von Tatsachen immer populärer wird.
2015 war ein Epochenjahr. Die deutsche Gesellschaft hat einen Globalisierungsschock erlebt – Terror, Griechenland, Klimagipfel, Flüchtlinge, Diskussionen um TTIP. Unsere Regierung kann die großen weltweiten Entwicklungen nicht mehr draußenhalten. Und in unübersichtlichen Lagen fliehen Menschen in klare Denkmuster. Die einfache Erzählung der Rechten ist: Wir sind gut, der Islam und Flüchtlinge gefährlich. Wir müssen uns vor dem Fremden schützen, bauen Zäune, ballern vielleicht ein wenig, und dann ist alles wieder gut. Diese große Erzählung ist wichtiger als alle Einzeltatsachen, weil Menschen politisch meist in solchen Erzählungen denken und nicht in Tatsachen. Es ist deshalb Quatsch, dass wir im postfaktischen Zeitalter leben: Aus psychologischer Sicht und nach allen Daten waren die Menschen schon immer von Torheit bedroht. Vernunft ist stets gebrechlich und muss verteidigt werden.
Was ist davon zu halten, wenn sich selbst unter den Verteidigern von Recht und Ordnung Männer mit Sympathien für die Ideen der "Reichsbürger" finden? In den vergangenen Tagen wurde bekannt, dass in Bayern und Sachsen-Anhalt gegen einzelne Beamte ermittelt wird.
Polizisten sind bekanntlich auch Menschen, und es gibt sehr viele, sie sind also auch ein Abbild der Gesellschaft. Es ist kein Wunder, wenn da ein paar Rechtsextreme dabei sind. Sie erleben das womöglich gar nicht als Widerspruch. Sie glauben, auf der Seite der Ordnung zu stehen und ihre Gruppe, das Volk, zu schützen, das ja besonders wertvoll ist. Außerdem kann die Polizei für Rechte attraktiv sein, weil sie Klarheit, Über- und Unterordnung bietet, eine geordnete Welt, in der Stärke wichtig ist. Das ist attraktiv für autoritäre Persönlichkeiten, und die neigen auch zu rechtslastigem Denken. Polizei heute ist und kann natürlich viel mehr, aber diese alten Vorstellungen ziehen Rechte womöglich besonders an.
Ihre Prognose: Wie entwickelt sich die Szene der "Reichsbürger" weiter?
Wir haben in Deutschland inzwischen eine buntscheckige rechtsextreme Landschaft. Die spricht ganz unterschiedliche Geschmäcker, Lebensstile und Milieus an. Da sind Hooligans und Landkommunen, Pegida-Schreihälse, von der CDU Enttäuschte und der Politik Entfremdete, Erzkonservative, Rock-Fans, verunsicherte sozial Schwache, rechte Jura-Studis, die "Identitäre Bewegung" und viele mehr. Diese ganzen Grüppchen pflegen regen Austausch und unterstützen sich. Die AfD ist der politische Durchlauferhitzer. Dieses arbeitsteilige Gewusel ist heute typisch für Rechtsextremismus und einer der Gründe, warum ihm mit Verboten und Strafverfolgung schwer beizukommen ist. Die "Reichsbürger" sind Teil dieser Szene und werden es bleiben.
Glauben Sie, die gegenwärtige mediale Aufmerksamkeit könnte die "Reichsbürger" stärken?
Ja. Man muss über sie reden und schreiben, aber leider ist das gleichzeitig Dünger. Die Ideologie wird bekannt, und Spinner klinken sich ein. Diese Verstärkung von Symptomen durch Medienberichte bis hin zu Krankheitsbildern nennt eine kulturhistorische Studie "Hystorien": Eigene, unklare Symptome können dank Medienberichten mit Deutungen aufgeladen werden, persönliche Schwierigkeiten finden eine entlastende Erklärung, und die Hystorie breitet sich weiter aus. So finden selbst die abwegigsten Theorien weltweit nennenswerte Mengen von Anhängern.
Was kann man gegen Gruppierungen wie die "Reichsbürger" tun?
Der Rechtsstaat muss sich ganz klar durchsetzen, das heißt: Schutz aller vor dem politisierten Wahn einer Minderheit. Aber es geht nicht nur um Staatsgewalt. Wir alle müssen ran. Jeder, der Freiheit und Gerechtigkeit für nachwachsende Naturprodukte hält und keine Lust hat, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren, frisst uns langfristig Wohlstand und Sicherheit weg. Wir müssen Verantwortung und Solidarität neu denken und neu leben.
Der Politologe und Psychologe Thomas Kliche, 58, ist Professor für Bildungsmanagement an der Hochschule Magdeburg-Stendal.