Mogi-san, wie haben Sie das Erdbeben erlebt?
Ich war in der U-Bahn auf dem Weg zu meinen Studenten. Ich habe gelesen und war ganz in meine Papiere vertieft, das eigentliche Beben habe ich gar nicht richtig gespürt. Plötzlich stoppte der Zug. Drei Frauen saßen mit mir im Abteil. Schauen Sie sich mein Handy an. Unsere Handys geben bei Erdbeben sofort Alarm. Wir starrten auf die Bildschirme und fuhren dann ganz langsam in die Station ein. Dort sprachen fremde Menschen miteinander und hielten sich in den Armen. An dem Nachmittag, um 14.46 Uhr, hat sich für Japan alles verändert. Und jetzt fürchten sich die Menschen vor der Atomkraft, auch wenn die westlichen Medien einen anderen Eindruck erwecken.
Von Furcht und Chaos ist in den Nachrichten aber nichts zu sehen! Die Bilder zeigen geordnete Warteschlangen. Die Flüchtlinge ziehen sogar ihre Schuhe aus, wenn sie die Notunterkunft betreten. Das Leben läuft offenbar doch ganz normal weiter.
Es klingt sicher komisch, aber das Erdbeben war für uns ein normales Ereignis. Wir hatten in der Vergangenheit so viele Naturkatastrophen, vielleicht haben wir uns einfach zu sehr daran gewöhnt. Außerdem werden alle Kinder schon in der Schule darauf vorbereitet.
Genau das würden wir gerne verstehen. Wir haben in Fukushima und Sendai, im Epizentrum des Bebens, nicht eine einzige Träne gesehen! Wie verarbeiten die Japaner ihren Schock?
Es gehört nicht zu unserer Kultur, Emotionen in der Öffentlichkeit auszudrücken. Das bedeutet aber auch, dass wir innen sehr verletzlich sind. Es ist nicht leicht zu verstehen. Mein Vater hat die Bombardierungen Tokios während des Zweiten Weltkriegs erlebt. Das war wie in Dresden. Letztes Jahr hat er zum aller ersten Mal darüber gesprochen. Das ist wohl eine Art japanischer Fatalismus. Wir glauben, dass unvorhergesehene Ereignisse alles verändern und zerstören können - und das können wir nicht ändern.
Was passiert denn in den Köpfen der Menschen und hinter den verschlossenen Wohnungstüren?
Viele drücken ihre Gefühle im Internet aus, doch in der Öffentlichkeit halten sie sich zurück. Das ist auch eine Gefahr für die Psyche des Landes. Und manchmal kann sich das rächen. Nach dem Kanto-Erdbeben 1923 gab es das Gerücht, dass die Koreaner dafür verantwortlich seien. Später wurden Tausende von ihnen gelyncht. Ich hoffe, dass die Nuklear-Katastrophe jetzt nicht den Damm der Zurückhaltung durchbricht. Dann könnte es zu einer Massenhysterie kommen.
Sehen sie die Gefahr?
Im Moment wohl nicht. Aber die Radioaktivität ist ja noch relativ begrenzt.
Japan hat die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki erlebt. Wir hätten eigentlich erwartet, dass die Japaner sich mehr vor der Radioaktivität fürchten.
Ja, die Stromausfälle scheinen die Menschen im Moment mehr zu beschäftigen. Ich bin promovierter Physiker und neige deshalb vielleicht eher dazu, die Atomenergie zu befürworten. Aber das Unglück lässt auch mich zweimal darüber nachdenken. Es ist wirklich ein großes Problem für Japan: Wir haben keine natürlichen Ressourcen und ohne Atomkraft können wir diese Art der Zivilisation nicht beibehalten. Die Energiepolitik wird nach der Krise zu unserem wichtigsten Thema werden.
Bisher gibt es nicht mal eine relevante Anti-Atombewegung...
Es gibt überhaupt keine Protestkultur und kaum Demonstrationen. In den letzten 20 Jahren gab es keinen ernsthaften Widerstand gegen irgendetwas, jedenfalls nicht in der breiten Bevölkerung.
Es gibt auch andere Möglichkeiten, auf die Angst vor den Strahlen zu reagieren. Im Nachbarland China ist Salz ausverkauft, weil die Menschen glauben, dass sie sich damit vor Strahlen schützen können. Nur in Japan redet niemand über solche Themen.
Die Menschen tragen zwar Gesichtsmasken, aber das ist zum Schutz vor Pollen. Das muss auf Ausländer sehr rätselhaft wirken, wenn man die Berichterstattung der westlichen Medien verfolgt. Aber so sind wir.
Liegt das daran, dass die Menschen der Regierung und den Medien blind vertrauen?
Das ist eine Generationsfrage. Ältere Menschen haben keine andere Wahl. Unser Fernsehen ist extrem homogen. Und die Überschriften in den Tageszeitungen sind quasi identisch. Die jüngeren Leute suchen im Internet nach alternativen Ansichten. Natürlich gibt es Sprachhürde. Die meisten Menschen verstehen ja kein Englisch und können die Berichterstattung aus dem Ausland deshalb auch nicht verfolgen. Wir brauchen alternative Medien, deshalb werden im Moment viele Artikel aus westlichen Medien im Internet übersetzt und verbreitet. Die Menschen wissen, dass wir andere Meinungen brauchen.
Die Katastrophe von Fukushima hat auch eine gewaltige Führungskrise offengelegt...
Das stimmt, Premierminister Naoto Kan hat erst in den Fernsehnachrichten von der Explosion des Reaktors erfahren. Wenn alles vorbei ist, müssen wir uns auch daran machen, unser politisches System umzubauen. Zu viel funktioniert nicht richtig.
Noch vor ein paar Jahren kam es in Japan oft vor, dass Ärzte Krebspatienten ihre Diagnose verheimlicht haben. Dahinter steckt die gleiche Logik, oder?
Von Anfang an sind Informationen verschwiegen worden. Die Regierung hat immer über die Atomkraft gesagt: Macht euch keine Sorgen. Wir passen auf, dass nichts passiert. Die Details braucht ihr gar nicht zu kennen, wir sind die Experten. Bis heute kennen die Menschen die Risiken der Atomkraft gar nicht. Und die Regierung folgt dieser Tradition.
Sie sind selber Physiker - lügt die Regierung?
Das glaube ich nicht. Aber sie wählen aus, welche Fakten sie wann kommuniziert. Japanische Fabriken sind bekannt für ihre Qualitätskontrolle und widmen selbst den kleinsten Details große Aufmerksamkeit. Nach diesem Ethos handelt auch die Regierung: die Bürokratie will alles kontrollieren. Die Japaner werden den Glauben an ihre Technologie behalten. Doch das Vertrauen in Regierung und Elektrizitätskonzerne ist langfristig beschädigt, und das ganz zu Recht!