Gleich kommt er. Gleich ist er hier." Die Stimme der jungen Frau zittert. Sie flüstert, Schüsse werden abgefeuert. Drei schnell hintereinander. Dann ist es sekundenlang still. Die Frau atmet schwer. Wieder knallen Schüsse. Die junge Frau ist Renate Tårnes. Sie hat sich auf der Toilette des Caféhauses auf Utøya versteckt und die Notrufnummer der Polizei gewählt. Es ist der 22.7.2011, und Anders Behring Breivik hat mit einer Bombe bereits das Regierungsviertel in Oslo zerstört und sein Massaker im Ferienlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF begonnen. Das minutenlange Telefonat zwischen der 22-Jährigen und einem Polizeibeamten spielt Staatsanwalt Svein Holden in seinem Eröffnungsvortrag im Prozess gegen den Attentäter von Oslo und Utøya vor.
Im Saal 250 des Osloer Amtsgerichts herrscht vollkommene Stille. Mehr als 200 Menschen halten den Atmen an. Schüsse knallen, der schwere Atem von Renate Tårnes dringt aus den Lautsprechern. "Leg nicht auf", sagt der Polizist. "Siehst du ihn?" Schüsse. "Er ist hier." Dann bricht die Verbindung ab.
Acht Monate, nachdem er 69 Menschen auf Utøya exekutierte und durch die Bombe in Oslo acht tötete, runzelt Breivik leicht die Stirn, als er das Gespräch zwischen Renate und der Polizei hört. Der 33-Jährige beißt sich kurz auf die Lippen. Während den Hinterbliebenen, den auf Utøya Verletzten, Journalisten im Saal und selbst den Anwälten Breiviks anzusehen ist, wie sehr der Tonmitschnitt sie mitnimmt, schaut Breivik ausdruckslos ins Leere.
Eine selbstherrliche Fratze im Blitzlichtgewitter
Sein Gesicht wirkt aufgedunsen, teigig. Er blinzelt nicht, verzieht keine Miene als ihm die Anklage vorgelesen wird. Zuvor hat er mit geballter, erhobener Faust beim Betreten des Gerichts gegrüßt. Diese Geste kannte man schon. Breivik hat sie bereits beim letzten Haftprüfungstermin im Februar gezeigt. Damals sah es noch etwas ungelenk aus. Die Handschellen behinderten ihn. Zum Prozessauftakt wurden sie ihm abgenommen. Dabei ließ er das 15-minütige Blitzlichtgewitter über sich ergehen. Er lächelte. Es war mehr eine Fratze, ein Grinsen, zufrieden, überlegen.
Breiviks Plan geht auf. Fotografen und Kamerleute drängen sich. 200 Augenpaare sind allein im Gerichtssaal 250 auf ihn gerichtet. In mehreren anderen Sälen im Gericht sitzen weitere Betroffene und Journalisten. Die Verhandlung wird in 17 weitere Gerichte im ganzen Land übertragen. Dort sollen die auf Utøya Verletzten und die Angehörigen der Opfer die Gerichtsverhandlung verfolgen. Wenige Minuten nach Prozessbeginn dominiert Breivik die Nachrichtenseiten in der ganzen Welt. In Norwegen wurde im Vorfeld viel diskutiert, wieviel Aufmerksamkeit die Medien dem Prozess und vor allem Breivik schenken sollen. Eine Umfrage der Zeitung "Aftenposten" zeugte schon vor Beginn des Verfahrens von einer Prozessmüdigkeit. 68 Prozent der Norweger wollten nichts mehr von dem Attentäter hören. Die Medien schränkten ihre Berichterstattung stark ein, verbannten das Thema von den Titelseiten und zeigten Breiviks Gesicht so wenig wie möglich, selbst am ersten Prozesstag. Doch bei Prozessbeginn waren die Selbstbeschränkungen vergessen. Breivik war das beherrschende Thema des Landes.
Und der Todesschütze hatte sich schick gemacht: schwarzer Anzug, weißes Hemd und bronzefarbene Krawatte. Sein helles, dünnes Haar ordentlich gescheitelt und gegelt. Nur am Hinterkopf hat sich eine Strähne den Bürstenstrichen widersetzt. Er sitzt zwischen seinem Hauptverteidiger Geir Lippestad und Vibeke Hein Bære.
Regungslos verfolgt Breivik die Anklage
Breivik hatte angekündigt, dass er ein Pokerface aufsetzen wird. Es gehört zu seinem Plan. Für ihn, so sagte er in einem Polizeiverhör, ist der Terror Theater. Dieser Prozess ist ein Teil seines Stücks, der letzte Akt. Es soll seine Bühne sein. Der Anschlag auf das Regierungsviertel in Oslo und das Massaker auf Utøya waren für ihn nur eine Notwendigkeit, um diese Bühne zu schaffen.
Und natürlich soll auf dieser Bühne nach seinen Regeln gespielt werden. Das Gericht will er nicht anerkennen, weil Richterin Wenche Elizabeth Arntzen die frühere Justizministerin kenne. Er protestiert gegen die Feststellung, dass er arbeitslos sei. "Ich bin Schriftsteller, arbeite im Gefängnis an einer neuen Schrift." Breivik spricht leise, fast schüchtern. Trotz Mikrofon ist er kaum zu verstehen.
Das anfängliche Grinsen verschwindet hinter einer regungslosen Maske. Als Staatsanwältin Inga Bejer Engh mit dem Verlesen der Anklage beginnt, senkt Breivik den Blick. Er hat die Anklage vor sich liegen, liest mit, regungslos, mit versteinertem Gesicht. Jedes einzelne Todesopfer wird namentlich genannt, wo es sich zum Zeitpunkt der Explosion oder der Exekution auf der Insel befunden hat und wie es gestorben ist. Erstes Opfer auf der Insel war Trond Berntsen, der Wachtmeister des Ferienlagers. "Er hielt sich zwischen dem Anleger und dem Informationshaus auf. Fünf Mal wurde er von Pistolenschüssen getroffen, in den Hinterkopf, in den Rücken", liest Bejer Engh vor.
Niemals nur einen Schuss
Ihre Stimme ist monoton, was sie liest, ist unfassbar grausam. "Nummer 21, Elisabeth Trønnes Lie, geboren am 9. März 1995. Sie starb im großen Saal des Kaffeehauses. Drei Mal wurde sie mit dem Gewehr oder der Pistole getroffen. Zwei Schüsse gingen durch die Stirn ins Kleinhirn. Sie starb an den Kopfschüssen." Etwas mehr als eine halbe Minute für jedes Opfer. "Nummer 22, Hendrik André Pedersen, …" 70 Minuten braucht Bejer Engh. Es ist still im Saal. Nur das Surren der Klimaanlage und das Klackern der Laptoptastaturen sind zu hören. 70 Minuten, die die grausame Tat an Schicksale knüpfen. 70 Minuten, die schockieren, die schmerzen. Niemals gab Breivik nur einen Schuss ab. Immer zielte er auf den Kopf.
Breivik schockt die Anklage nicht. Sein Brustkorb hebt und senkt sich langsam. Ab und an trinkt er einen Schluck, macht sich Notizen. Er blinzelt nicht, er kratzt sich nicht am Kopf und wiederholt nach Ende der Anklage nur das, was er zuvor bei den Haftprüfungsterminen gesagt hat. Er sei unschuldig, habe aus Notwehr gehandelt.
Die Tränen der Rührung
Gut drei Stunden behält Breivik die Beherrschung. Dann wischt er sich plötzlich über die Augen. Müdigkeit? Nein, die Augen des Attentäters sind mit Wasser gefüllt. Wieder und wieder wischt er, will verhindern, dass die Tränen rinnen. Es ist sein eigenes Werk, dass ihn zum Weinen bringt. Staatsanwalt Svein Holden geht in seinem Eröffnungsvortrag den 22.7.2011. Minute für Minute durch, zeigt Bilder von Überwachungskameras, Karten, Fotos und das Propagandavideo, das Breivik selbst zusammengebastelt hat. Eine Collage aus Zitaten, Comics, Fotos, die seine rechtsextreme, Ideologie, seine Islamphobie zeigen sollen. Chorale Gesänge und Musik, die an den Ruf des Muezzins erinnert, untermalen die Bildershow. Sie ist einfältig, banal, schlecht ausgeführt. "Als er sein eigenes Produkt sah, rührte ihn das sehr", sagt der Gerichtspsychiater Svenn Torgensen zur Zeitung "Aftenposten". Breivik flüsterte seiner Anwältin Hein Bære etwas zu. Ein Lippenleser sagte der Zeitung Verdens Gang, dass Breivik geflüstert habe: "Es ist nur, weil es ein emotionaler Film ist." Anwalt Lippestad sagte später auf der Pressekonferenz, sein Mandant habe wegen seiner Gefühle über den aus seiner Sicht anhaltenden "Krieg" gegen die "muslimische Invasion" in Europa geweint. Die Erklärung für seine Gefühlsregung sei "zum Teil" damit zu begründen, dass er seine Taten begangen habe, "um - wie er sagt - Europa von einem anhaltenden Krieg zu erlösen."
Mit dieser Einschätzung steht Breivik vermutlich sehr allein da. Die Zuhörer mussten andere emotionale Momente überwinden. Das Telefonat zwischen Renate Tårnes und der Polizei wird niemand vergessen. Die junge Frau, die sich auf den Toiletten des Caféhauses versteckte, hat das Massaker auf Utøya überlebt. Für sie und all die anderen Betroffenen werden die fünftägige Aussage des Attentäters und sein morgiger 30-minütiger Vortrag eine erneute Tortur.