Latisha Bowles hat bis zum Schluss auf den "Old Man River" gesetzt. "Er will nach hier oben kommen", sagt sie trotzig. "Aber ich habe jeden Tag gebetet, dass er es nicht tut." Er hat es nicht getan. Die meterhohen Schutzdämme haben auch am Dienstag dem wütenden Mississippi standgehalten. Die historische Musikstadt Memphis (Tennessee) atmet auf - nun wandert die Furcht vor der Mega-Katastrophe flussabwärts.
Bowles war die einzige aus ihrer Nachbarschaft, die den angekündigten Fluten in ihrem Haus getrotzt hat. Die Aufrufe der Behörden, Hab und Gut zurückzulassen und wie 900 andere Familien in eine Notunterkunft zu ziehen, hat sie ignoriert. "Ich habe drei Kinder und denke nicht daran, hier wegzugehen." Bowles' Nachbarn werden wohl schon bald zurückkehren.
"Doch bis die Menschen in den tiefer gelegen Gebieten der Stadt in ihre Häuser zurückkönnen, wird es Tage, vielleicht Wochen dauern", sagt Tammie Tich vom Roten Kreuz. In einigen Vierteln der Stadt erreichte das Hochwasser bereits die Fenster im ersten Stock der Häuser. Es werde lange dauern, bis die braune Brühe abgeflossen sei, meint Tich. "Immerhin", sagt sie am Dienstagmorgen, "sind wir mit einem blauen Auge davongekommen."
Wenige Kilometer südwärts bangen unterdessen Hunderte Farmer um ihre Existenz. "Tennessee hat eine solche Flut seit 75 Jahren nicht gesehen", sagt Lee Maddox, ein Sprecher der Landwirtschaftskammer des Staates. Der Nordwesten - eine Kornkammer mit riesigen Mais- und Sojabohnenfeldern - stehe zu großen Teilen unter Wasser. Der Mais sei bereits verloren, weil die Zeit für eine gute Ernte in dieser Woche vorbei sei. "Die einzige Option der Bauern sind jetzt die Sojabohnen, wenn sie die bis Juni gepflanzt bekommen."
"Eine Flut ist das letzte, was wir hier brauchen, erklärt Lynn Magnuson in der Jazzstadt New Orleans. "Ich habe den Wirbelsturm "Katrina" erlebt und wünsche wirklich niemandem, jemals von Hochwasser betroffen zu sein", sagt sie dem TV-Sender CNN. "Diese Stadt ist nun wirklich der letzte Ort der Welt, der nochmal sowas braucht!"
Seit Tagen bereiten sich die Menschen im Süden auf das große Finale des Mississippi-Hochwassers vor. Besonders in der Staatshauptstadt Baton Rouge: Wenn sich die Flutwelle des längsten Stroms der USA bis dort gewälzt hat, könnte sie sich auf mehr als 13,6 Meter aufgetürmt haben, befürchtet der Nationale Wetterdienst. Das wäre der höchste Wert der Nachkriegszeit. Helfer und Soldaten sind rund um die Uhr im Einsatz.
Nördlich von New Orleans wollte das Armeekorps der Ingenieure am Dienstag möglicherweise einen zweiten Not-Ablauf öffnen, um den Fluss zu entlasten. Dort, im Ort Angola, begannen Sicherheitskräfte damit, das Staatsgefängnis von Louisiana zu räumen. Die ersten der rund 5000 Insassen wurden auf Booten in andere Einrichtungen befördert. Unter ihnen sind nach Medienberichten auch Todeskandidaten.
Während die Menschen im Süden die nahende Flutwelle beäugen wie das Kaninchen die Schlange, schauen andere bereits darauf, wie viel Geld der Mississippi in den letzten Monaten schon weggespült hat. Der Strom ist das größte Flusssystem des Landes und fasst laut Armeekorps der Ingenieure rund 40 Prozent des Wassers der kontinentalen USA. Die Nation habe bereits 13 Milliarden Dollar in die Sicherung dieses Systems investiert. "Nun sehen wir zu, wie es bis an die Grenzen belastet und getestet wird", sagte Oberst George Shepard dem US-Fernsehsender Bloomberg.