Haiti - ein Jahr nach dem Erdbeben Die Nachbeben des Bebens

Das Beben dauerte nur Sekunden, doch es zerstörte weite Teile Haitis. Und es war erst der Anfang: Zwölf Monate nach der Katastrophe ist die Lage im ärmsten Land Amerikas noch aussichtsloser.

Die Bilder und der Lärm kommen immer wieder, in Tag- und Nachtträumen: Anne-Rose Schön hatte gerade ihren Wagen an einem Supermarkt abgestellt, da hörte sie einen Riesenlärm. Eine Asphaltwelle schob sich auf die aus Nürnberg stammende Geschäftsfrau zu, hob sie einen halben Meter hoch. Dann wurde es still an diesem Dienstag, dem 12. Januar 2010, kurz vor 17 Uhr.

Binnen weniger Sekunden war die haitianische Hauptstadt zerstört. Über der Stadt zu Füßen eines steil ansteigenden Gebirges türmte sich eine riesige Staubwolke. "Wir begriffen erst gar nicht, was geschehen war", sagt Schön, Lettlands Honorarkonsulin in Haiti. Ein Erdbeben der Stärke 7,0 ließ Ministerien, Schulen, Hotels, Supermärkte, Bürotürme und Wohnhäuser einstürzen. Hunderttausende Menschen starben in den Trümmern in Port-au-Prince und den nahen Städten Léogâne, Petit-Goâve und Jacmel an der Südküste.

Spendenkonten

Vermutlich Hunderttausende sind bei dem schweren Erdbeben in Haiti ums Leben gekommen. Unzählige sind obdachlos, verletzt und hilfsbedürftig. Wenn Sie für die Opfer der Naturkatastrophe spenden wollen, finden Sie hier eine Liste mit Hilfsorganisationen, die vor Ort die Bedürftigen unterstützen.

Nach 222.000 Toten haben die Behörden, oder das, was von ihnen übrig war, aufgehört zu zählen, die Zahl blieb eine Schätzung. Rund 300.000 Menschen wurden verletzt, viele verloren Beine oder Arme. Über eine Million Menschen wurden obdachlos und der Großteil von ihnen ist es bis heute. Die Toten wurden in Lastwagen aus der Stadt transportiert und in Massengräber gekippt, niemand hat sie gezählt, niemand ihre Namen erfasst.

Auch zwölf Monate nach der Katastrophe ist von einem staatlich organisierten Wiederaufbau noch immer nichts zu sehen. Lediglich ein Teil der Trümmer wurde aus der Stadt geschafft. Sie wurden entlang der Ausfallstraßen verteilt, nicht selten mit Leichen darin. Oder sie wurden verwendet, um tiefliegende Gelände aufzufüllen, als Fundament für die Zeltstädte der Obdachlosen.

Die internationale Staatengemeinschaft wurde schnell aktiv. Unter schwierigsten Bedingungen: Die Regierung war angeschlagen, viele Ministerien zerstört und etliche Mitarbeiter tot. Auch die seit 2004 in Haiti stationierte UN-Mission Minustah hatte ihre Führung und mehr als 100 ihrer Mitarbeiter verloren.

"Lieber Almosen verteilen als Häuser bauen"

Dutzende Hilfsorganisationen kamen in das kleine Land, das sich mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola teilt. Zehn Milliarden Dollar sagten die Staaten zu - doch davon ist bisher kaum etwas in Haiti angekommen. Hollywoodstar Sean Penn, der seit Jahren Hilfsprojekte in dem Karibikstaat leitet, erhebt deshalb schwere Vorwürfe gegen Hilfsorganisationen und die internationale Staatengemeinschaft: Im stern sagte er, viele Helfer würden lieber Almosen verteilen als dringend benötigte Häuser zu bauen.

"Wenn diese Staaten ihr Geld wie versprochen gegeben und dafür gesorgt hätten, dass jeder Haitianer sauberes Wasser erhält, wenn die hierher gekommen wären, Leitungen verlegt und Filtersysteme installiert hätten, dann hätten wir heute keine Cholera-Epidemie", so der Schauspieler weiter.

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Ein Land im politischen Vakuum

Ein weiteres Problem ist das politische Vakuum: Inmitten des Chaos wurde im November der neue Präsident gewählt, beziehungsweise nicht gewählt. Keiner der Kandidaten bekam die nötige Mehrheit, die für den 16. Januar geplante Stichwahl aber wurde nun auf unbestimmte Zeit verschoben - das Staatsoberhaupt René Préval will bis dahin im Amt bleiben, was die Oppositionsanhänger empört. Seit einigen Tagen blockieren sie aus Protest wichtige Straßen in der Hauptstadt Port-au-Prince. "Für den Wiederaufbau brauchen wir eine demokratisch legitimierte Regierung", sagt Minustah-Chef Edmond Mulet. Dafür sollten auch Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen in Kauf genommen werden.

Bisher gibt es nur Projekte der Hilfsorganisationen, die etwa Schulen oder Kinderheime wieder aufbauen, auch sind mehrere neue Supermärkte entstanden. Und es werden kleine Holzhäuser errichtet. Viele Menschen haben die erbärmlichen Reste ihrer Häuser wieder zu Häuschen zusammengebaut, die aber nicht den Eindruck machen, als könnten sie einem neuen Erdbeben standhalten. Auf zahlreichen Flachdächern stehen blaue, weiße oder graue Zelte.

Ein Glück für das Land war, dass die Hurrikane der Regenzeit Haiti weitgehend verschonten. Doch im Oktober brach völlig überraschend die Cholera aus. Mehr als 3300 Menschen sind inzwischen an der Seuche gestorben, rund 150.000 erkrankten. Und trotz aller Mühen der Helfer ist die Epidemie weiter auf dem Vormarsch, auch wenn sich die Lage leicht verbessert. 22 Menschen sterben täglich an der schweren Durchfallerkrankung. Vor wenigen Wochen waren es noch täglich 60.

"Wir sind als Nation verloren"

Zum Jahrestag macht Amnesty International zudem auf das tragische Schicksal von Frauen aufmerksam: Sie werden zunehmend Opfer sexueller Gewalt. Allein für die ersten 150 Tage nach dem Beben seien in den Zeltstädten in Port-au-Prince und im Süden des Landes mehr als 250 Vergewaltigungen registriert worden, heißt es in einer Studie der Menschenrechtsorganisation. "Frauen, die nach dem Erdbeben bereits mit dem Verlust ihrer Liebsten, ihres Zuhauses und ihrer Existenzgrundlage zurechtkommen müssen, fühlen sich nun zusätzlich von der Gefahr sexueller Übergriffe bedroht", sagte der bei Amnesty für Haiti zuständige Wissenschaftler Gerardo Ducos. "Haitis ohnehin schwaches Rechts- und Ordnungssystem" sei nach dem Beben "vollständig" zusammengebrochen, so Ducos weiter, deshalb müssten sie in der Regel keinerlei Strafen befürchten.

Das ohnehin am Boden liegende Haiti ist im vergangenen Jahr verletzlicher und wehrloser geworden. Noch immer leben über eine Million Menschen in Obdachlosenlagern. Hinzu kommen Millionen in den Slums der Städte. "Es gab auch früher schon Armut in unserem Land", sagt der populäre Musiker und Präsidentschaftskandidat Michel Martelly. "Heute aber ist es Elend. Wir sind als Nation verloren."

DPA
nik/DPA/AFP

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