Menschen, die Mut machen Leben mit der Bombe

Von Kirsten Wörnle
In der Adventszeit stellen wir jeden Tag einen Menschen vor, den sein Engagement für andere oder der Umgang mit dem eigenen Schicksal auszeichnet. Heute: Raymond Taha. Er erlebte einen französischen Atombombentest auf einem polynesischen Atoll, als noch keiner auf die Strahlung vorbereitet war. Jetzt kämpft Taha vor Gericht gegen den französischen Staat.

Raymond Taha war zwölf Jahre alt, als sein Vater starb. "Mein Großvater konnte mir das Schulgeld nicht lange bezahlen", erzählt er. "Deshalb ging ich mit 16 Jahren zum Arbeiten nach Moruroa." Das Atoll, das zu Französisch-Polynesien gehört, war damals zusammen mit dem Fangataufa-Atoll Stützpunkt für französische Atombombentests. 1966 wurde auf Moruroa die erste Bombe gezündet. "Vor dem Test sind wir auf einem großen Schiff weit hinaus aufs Meer gefahren, bis das Atoll kaum noch zu sehen war", erzählt Taha. Sie sammelten sich an Deck und setzten dunkle Brillen auf. Dann der Befehl: "Augen zu!" Kurz darauf hörte der junge Mann ein wahnsinniges Donnern. Als er die Augen wieder öffnete und die Brille abnahm, sah er am Horizont seinen ersten Atompilz.

Menschen, die Mut machen

Überall auf der Welt gibt es Menschen, die anderen helfen und in scheinbar ausweglosen Situationen Mut machen. Menschen, die oft selbst nichts besitzen, wegen ihres sozialen oder politischen Engagements bedroht werden und doch nicht aufgeben. Das Hilfswerk der evangelischen Kirche Deutschlands, "Brot für die Welt", unterstützt diese Menschen. Mit Spenden und mit praktischer Hilfe zur Selbsthilfe. So entstanden unzählige Projekte auf allen Kontinenten. In diesem Jahr feiert die Organisation den 50. Jahrestag ihrer Gründung. stern.de stellt in einer Kooperation mit "Brot für die Welt" 26 Menschen vor, die von der Hilfe aus Deutschland profitiert haben - und nun selber zu Helfern geworden sind: zu Menschen, die Mut machen.

Der Boden war mit toten Fischen übersät

Zwei oder drei Tage blieben sie auf dem Meer, dann kehrten sie nach Moruroa zurück. "Es hat furchtbar gestunken", erinnert sich Taha. Die Kokospalmen auf dem Riff waren verkohlt, der Boden übersät mit toten Fischen. Lastwagen hatte es 150 Meter weit durch die Luft geschleudert. Taha gehörte zum Aufräumtrupp. Während die Männer vom radiologischen Sicherheitsdienst mit Masken, Handschuhen und Schutzanzügen die Verstrahlung maßen, sammelten die polynesischen Arbeiter die toten Fische mit bloßen Händen ein

188 Atombombentests auf Mururoa

Mururoa ist ein rund 300 Quadratkilometer großes unbewohntes Atoll im Südpazifik. Von 1966 bis 1996 wurden auf Mururoa 41 Atombomben in der Atmosphäre und 147 Atombomben unterirdisch gezündet. Im Jahr 2000 zogen die Franzosen von dem Atoll ab. Bis heute ist das Atoll Sperrgebiet. In rund 140 Bohrschächten lagern dort große Mengen radioaktiven Mülls.

In den Kantinen wurden damals Steaks und Hühnchen, Sauerkraut und Würstchen serviert. "Uns Tahitianern schmeckt das nicht", sagt Raymond Taha. "Wir sind ein Volk des Meeres." Viele angelten heimlich und brieten sich einen frischen Fisch. Solches Essen hatte oft unerträglichen Juckreiz zur Folge. "Die Kollegen haben sich an einer Wand gescheuert und mit Metallbürsten gekratzt, bis das Blut lief", erinnert sich Taha. "Dann wurden sie nach Tahiti ins Krankenhaus gebracht. Wir haben sie nie wieder gesehen."

"Dein Blut ist verrottet"

Raymond Taha arbeitete bis 1981 auf dem Atoll, als Maler, Geschirrwäscher oder Steinbrecher für den Straßenbau. "Ich stand an einem Förderband und sortierte Blätter, Wurzeln und Holz aus dem Schotter und atmete den ganzen Tag den Staub ein. Für "Strahlung", "Kontaminierung" oder "Radioaktivität" hat die Sprache der Polynesier nicht einmal eigene Worte. Wenn sie von Verstrahlung reden, sagen sie einfach "taero" - was so viel heißt wie "betrunken" oder "übel". Und die Ärzte sagen, wenn sie Leukämie diagnostizieren: "Dein Blut ist verrottet." 1980 kam Raymonds Tochter Cyntia zur Welt. Ihre Lungen waren nicht richtig ausgebildet. Ein Jahr später starb sie. Ihr Vater hatte auf Moruroa schon Kollegen krank werden und sterben sehen. Jetzt reichte es ihm. Er kündigte die gut bezahlte Arbeit und ging zurück nach Tahiti. 1994 wurde bei ihm akute Leukämie diagnostiziert. Er kam für zwei Jahre zur Chemotherapie in ein Krankenhaus in Paris. Aus einem stattlichen Mann von 104 Kilogramm Gewicht war ein Patient mit 73 Kilogramm geworden. "Deine Krankheit kommt von Moruroa", sagte ihm ein Arzt. Doch der französische Staat sieht das anders. Offiziell bestand für die Arbeiter auf Moruroa nie ein Strahlenrisiko. Einzig bei Moruroa e Tatou fand Taha Hilfe. Der von "Brot für die Welt" unterstützte Verein ehemaliger Arbeiter half ihm, seine medizinischen Unterlagen zu erstreiten und so ein Dossier für das Gericht zusammenzustellen. Raymond Taha will das Urteil noch erleben. "Ich hoffe auf Gerechtigkeit!"

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