Eskalation im Nahost-Konflikt Israels Bomben treffen nicht nur die Hamas, sondern auch Zivilisten. Wie geht es den Menschen im Gazastreifen?

Trauernde Palästinenserinnen
Palästinenserinnen trauern um ihre Angehörigen, die bei einem israelischen Luftangriff getötet wurden
© Abed Rahim Khatib / DPA
Israel hat über 1000 Tote zu betrauern – und rächt sich dafür nicht nur an der Hamas. Vor allem Zivilisten im Gazastreifen leiden unter den Kämpfen. Viel Hoffnung auf Rettung gibt es aber nicht.

Seit fast zwei Jahrzehnten blockiert Israel den Gazastreifen. Bombenangriffe, rationierte Lebensmittel und Stromausfälle stehen in der Region auf der Tagesordnung. Immer wieder gibt es Berichte über gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. Der Sturm auf die israelischen Grenzzäune durch die als Terrororganisation eingestufte Hamas am vergangenen Samstag gipfelte in einer neuen Eskalation – und einem historischen Massaker in der Geschichte Israels. Ungefähr 1000 Menschen sind allein auf israelischer Seite gestorben. Tausende wurden verletzt. Dafür will Israel Vergeltung. Bei israelischen Gegenschlägen im Gazastreifen sind laut Gesundheitsministerium in Gaza bislang 788 Menschen gestorben. Nun will Israel den Gazastreifen vollständig abriegeln.

Für die Menschen in der Region bedeutet das: kein Trinkwasser, kein Strom oder Benzin. Die Vereinten Nationen haben die Entscheidung bereits verurteilt. Die Lieferungen zu unterbrechen, verstieße gegen das Völkerrecht. Hilfsorganisationen befürchten, dass sich die humanitäre Lage für die Menschen vor Ort weiter verschlechtert.

Der Gazastreifen zählt zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt. Auf den 365 Quadratkilometern leben etwas über zwei Millionen Menschen. Zum Vergleich: Hamburg ist etwas mehr als doppelt so groß und hat 1,8 Millionen Einwohner. Seit Jahrzehnten ist der Gazastreifen stark auf internationale Unterstützung angewiesen. Die könnte nun wegen der Kämpfe zwischen den Hamas und Israel ausbleiben. Deutschland hat seine Hilfsgelder für die Palästinenser ausgesetzt – die EU hatte zunächst überlegt, nachzuziehen, dann aber entschieden, die humanitäre Hilfen fortzuführen.

Doch es geht nicht nur um Geld: Wegen der Bombenangriffe musste die UN in den vergangenen Tagen 14 Verteilungszentren für Lebensmittel im Gazastreifen schließen. Mehr als 110.000 Familien und 500.000 Einzelpersonen haben nach Angaben der Organisation seitdem keine Nahrungsmittelhilfe mehr erhalten. Das Welternährungsprogramm der UN (WFP) sei allerdings bereit, die Unterstützung wieder aufzunehmen, wenn die Lage dies zulässt, heißt es in einer Mitteilung. Wann das sein wird, ist derzeit ungewiss.

Versorgungslage im Gazastreifen angespannt

Die Kämpfe zwischen Hamas und Israel machen es Hilfsorganisationen derzeit unmöglich, in den Gebieten zu arbeiten und betroffene Zivilisten zu unterstützen. Viele Hilfsorganisationen, darunter das Aktionsbündnis Deutschland hilft, konnten auf Anfrage des stern keine Angaben zum Stand der Hilfslieferungen machen, weil die Lage zu unübersichtlich ist. Deren Mitarbeiter vor Ort sind extrem gefährdet. Der Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Gaza, Matthias Kannes, berichtet dem stern in Sprachnachrichten von palästinensischen Kollegen, die ihr Zuhause verließen, aus Angst, Ziel der israelischen Angriffe zu werden. Von anderen seien die Häuser bereits komplett im Bombenhagel zerstört worden.

"Momentan sieht es so aus, als ob auch Hilfsorganisationen keine neuen Güter nach Gaza einführen können. Dabei wird Nachschub für die medizinische Versorgung, Trinkwasser, Lebensmittel dringend benötigt", sagt Muriel Asseburg, die zu Konflikten im Nahen Osten forscht, dem stern. Derzeit würden sich die UN um humanitäre Korridore bemühen.

Israelische Angriffe auf Gaza-Stadt
Flammen und Rauch steigen während israelischen Angriffen auf Gaza-Stadt auf
© Ahmed Zakot / SOPA Images / DPA

Die meisten Geschäfte in den betroffenen Gebieten verfügen nach Organisationsangaben zwar über Lebensmittelvorräte für einen Monat. Diese könnten jedoch schnell aufgebraucht sein, "da sich Menschen aus Angst vor einem anhaltenden Konflikt eindecken", befürchtet die UN.

"Nur wenige Menschen haben überhaupt ausreichend Mittel, um Vorräte anzulegen", räumt Asseburg zudem ein. Besonders beim Trinkwasser könnte es knapp werden: Die Weltbank schätzt, dass bisher nur ein Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen Zugang zu sauberem Trinkwasser hatte – aus mehreren Gründen. Das Wasserreservoir unter der Region ist massiv übernutzt und vermischt sich seit Jahren mit Meerwasser. Dadurch steigen Salzgehalt und Nitratwerte und befördern Krankheiten in der Bevölkerung. Besonders Kinder leiden unter Durchfallerkrankungen. Zudem haben israelische Luftangriffe die Wasserinfrastruktur in Gaza beschädigt oder zerstört. Wegen der seit 2006 anhaltenden israelischen Blockade fehlt es in der Region zudem an Material, um die Anlagen zu reparieren oder neu zu bauen.

Zivilisten in Gaza suchen Zuflucht

"Die Zivilbevölkerung im Gazastreifen wurde von den Angriffen der Hamas am vergangenen Samstagmorgen genauso überrascht wie Israel und die Weltöffentlichkeit", sagt Martin Beck, Professor für Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität Marburg, dem stern. Dass Israel zivile Ziele angreifen würde, hätten viele bereits befürchtet. "Dass die israelische Besatzungsarmee den Gazastreifen mit der vollständigen Blockade überziehen würde, hatten die Menschen im Gazastreifen allerdings nicht auf dem Schirm", sagt Beck.

Auch wenn Israel immer wieder betont, vor allem militärische und terroristische Ziele anzugreifen, sind die Bewohner dem schutzlos ausgeliefert. Schutzräume und Bunker gibt es für sie nicht; das vielbeschworene Tunnelsystem unter dem Gazastreifen dient vor allem der Hamas als Rückzugsort.

"Viele versuchen sich in Einrichtungen der UN-Flüchtlingsorganisation UNRWA in Sicherheit zu bringen", sagt Asseburg. Allein am Wochenende haben nach UN-Angaben rund 74.000 Menschen Zuflucht in UNRWA-Gebäuden im Gazastreifen gesucht. Bis Montagabend seien um die 200.000 Menschen aufgenommen geworden und die Unterkünfte "damit schon überfüllt". Doch auch dort sind die Menschen nicht immer sicher. "Erfahrungen aus vorigen Kriegen zeigen, dass auch schon Menschen in UN-Gebäuden ums Leben gekommen sind", heißt es von den UN. Laut deren Lagebericht wurden am Wochenende insgesamt 14 UN-Einrichtungen in Gaza von israelischen Geschossen getroffen. Allerdings kam es dabei nur zu Sachschäden.

Jenseits dessen leiden die Menschen in der Region auch psychisch. Laut einer Befragung von über 400 Kindern durch die Organisation Safe the Children aus dem vergangenen Jahr haben 80 Prozent der Kinder emotionale Probleme. Mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen berichten von Suizidgedanken, 60 Prozent verletzen sich demnach auch selbst.

Welches Ziel verfolgt Israel?

Benjamin Netanjahu hatte die Bevölkerung im Gazastreifen bereits dazu aufgefordert, die Region zu verlassen. "Angesichts der israelischen Blockade des Gazastreifens ist das aber bloße Rhetorik", sagt Beck. Da es im Gazastreifen weder Häfen noch Flughäfen gibt, bleibt den Menschen nur der Landweg über die israelisch kontrollierten Checkpoint Erez und Rafah an der Grenze zu Ägypten. "Diese sind aber blockiert."

palästinensischer Junge
Ein palästinensischer Junge sitzt inmitten der Trümmer eines zerstörten Gebäudes nach einem israelischen Luftangriff
© Abed Rahim Khatib / DPA

Politikwissenschaftlerin Asseburg rechnet damit, dass Israels Blockade weiter anhält, auch wenn die Hamas die Kampfhandlungen einstellen. "Israel hat seine Kriegsziele noch nicht klar benannt. Offensichtlich ist aber, dass es – nach den furchtbaren Gräueltaten und Kriegsverbrechen, die Hamas begangen hat – nicht nur darum geht, dass Hamas die Kampfhandlungen einstellt. Es geht um Vergeltung und um die Zerschlagung der Hamas-Strukturen."

Beck geht von einem noch dramatischeren Szenario aus: "Es steht zu befürchten, dass die Bombardements des Gazastreifens und die strikte Versorgungsblockade die von den Vereinten Nationen prognostizierte 'Unbewohnbarkeit' der Region beschleunigen." Davor hatte die Organisation bereits 2018 in einer Studie gewarnt, das Szenario aber im Jahr 2020 datiert.