Waffen für Israel Hat die Bundesregierung vor Gericht nur die halbe Wahrheit gesagt?

  • von Karim Natour
Montage: Merz und Netanyahu, im Vordergrund ein Auszug aus einem Brief des Verteidigungsministeriums
© stern-Montage: Imago Images (4); Picture Alliance; Bundesministerium der Verteidigung
Nicaragua wirft Deutschland "Beihilfe zum Völkermord" in Gaza vor. Interne Dokumente nähren den Verdacht, die Bundesregierung habe ihre Aussage mit Israel abgesprochen.

Die Bundesregierung hat sich vor ihrer Aussage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag im April 2024 offenbar mit Israel abgestimmt. Das geht aus Schriftwechseln aus dem Bundesverteidigungsministerium (BMVg) hervor, die dem stern und Drop Site vorliegen. 

Vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen hatte die deutsche Vertretung in dem Verfahren zwischen Nicaragua und Deutschland wegen des Vorwurfs einer "Beihilfe zum Völkermord" im Gazastreifen erklärt, dass 2023 keine Kriegswaffen aus Beständen der Bundeswehr an Israel geliefert worden seien. Die Dokumente aus dem BMVg, die durch einen presserechtlichen Antrag beim Verwaltungsgericht Köln erlangt worden sind, werfen nun Fragen über die Vollständigkeit dieser Angaben auf. 

Nicaragua hatte im März 2024 eine Klage eingereicht, in der Deutschland unter anderem wegen der Lieferung von Waffen und anderer militärischer Ausrüstung an Israel der "Beihilfe zum Völkermord" im Gazastreifen beschuldigt wurde. Außer den USA liefert niemand so viele Waffen nach Israel wie die Bundesrepublik.

Laut eigenen Angaben hat die Bundesregierung im Zeitraum vom 7. Oktober 2023 bis 13. Mai 2025 Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter im Wert von fast 500 Millionen Euro für Israel erteilt. Während kommerzielle Exportgenehmigungen von Rüstungsgütern in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsministeriums fallen, unterstehen direkte Lieferungen aus den Beständen der Bundeswehr – sogenannte Länderabgaben – dem Verteidigungsministerium.

Bei der Anhörung am 8. April 2024 kritisierte ein Vertreter Nicaraguas die mutmaßliche Lieferung von 10.000 Schuss 120-Millimeter-Präzisionsmunition für israelische Panzer aus Bundeswehrbeständen, die auf eine Anfrage Israels zurückgehe. Die deutsche Vertreterin bestätigte am nächsten Tag in Den Haag die Anfrage, betonte aber, sie werde "noch geprüft".

Demnach sei keine Genehmigung erteilt worden. Dann behauptete sie, "die einzigen Gegenstände, die die deutsche Bundeswehr an Israel liefert, sind medizinische Hilfsgüter und Helme". Daraus lässt sich folgern, dass die Bundeswehr 2023 keine Waffen oder Munition aus Bundeswehrbeständen an Israel geliefert hat.

Laut Dokument Angaben "im Einvernehmen" mit Israel

Nun lassen Dokumente, die stern und Drop Site vorliegen, Zweifel an der Vollständigkeit dieser Darstellung aufkommen. Demnach hat die Bundesregierung zumindest in Teilen "im Einvernehmen" mit Israel entschieden, was im Verfahren offengelegt wird. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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So geht aus einer Stellungnahme des Verteidigungsministeriums an das Verwaltungsgericht Köln vom 29. Januar 2025 hervor, dass die Bundesregierung "im Einvernehmen mit dem betroffenen Staat [Israel]" beschlossen hat, für die Anhörung in Den Haag "über die Angaben im Rüstungsexportbericht hinausgehende Details" – zu den Länderabgaben – bekannt zu machen. Damit gemeint sind die Angaben zu medizinischen Hilfsgütern und Helmen aus Bundeswehrbeständen.

Der halbjährlich vom Wirtschaftsministerium erstellte "Rüstungsexportbericht" enthält keine detaillierten Angaben zu den ausgeführten Rüstungsgütern, insbesondere nicht zu den Länderabgaben, die direkt aus den Beständen der Bundeswehr kommen.

Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln vom 26. Mai 2025 bestätigt dies. In dieser heißt es, dass die Aussage Deutschlands, es seien nur "Sanitätsmaterial und Helme" aus Bundeswehrbeständen geliefert worden, "nach Angaben der Antragsgegnerin [des Bundesverteidigungsministeriums] im Einvernehmen mit dem Staat Israel" erfolgte.

Angaben zu Länderabgaben an Israel, so das Ministerium, könnten dabei aus "Gründen der vertraglich vereinbarten Vertraulichkeit" nicht offenbart werden. Die Offenlegung solcher Informationen könne das Vertrauen zwischen Deutschland und Israel erheblich beeinträchtigen. Ob das Interesse der Öffentlichkeit geringer als das Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung zu bewerten ist, darf bezweifelt werden – insbesondere vor dem Hintergrund des aktuellen Verfahrens vor dem IGH.

In einem früheren Schreiben des Ministeriums vom 15. Januar 2025 heißt es, die in dem presserechtlichen Antrag "erfragten differenzierten Informationen über Bundeswehrausfuhren" seien "in dem Verfahren vor dem IGH nicht offengelegt” worden.

Mit den von Nicaragua vorgebrachten Anschuldigungen wird das erste Mal ein Drittstaat mit einer solchen Klage vor dem IGH konfrontiert. Während das Hauptverfahren gegen Deutschland wegen des Vorwurfs einer "Beihilfe zum Völkermord" im Gazastreifen vor dem IGH weiterläuft, hat das Gericht Nicaraguas Eilantrag auf einen sofortigen Stopp der Waffenlieferungen im April 2024 abgelehnt. 

Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) kritisierte die deutsche Informationspolitik. Wenn die Bundesregierung erkläre, "es seien vor dem IGH Angaben zu Länderabgaben nur im Einvernehmen mit Israel getätigt worden", erscheine es "möglich, dass die genannten Güter doch nicht die einzigen, sondern nur die einzigen mitgeteilten Güter waren". Somit wäre womöglich "nur ein Teil der Informationen zu den Länderabgaben preisgegeben" worden – eben nur solche, mit deren Bekanntmachung Israel trotz angeblich bestehender Verschwiegenheitsvereinbarung einverstanden war.

Für Matthias Goldmann, Professor für Internationales Recht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht, wäre dies ein "politischer Skandal" und "ein Affront gegen ein internationales Gericht": Sollte Deutschland vor dem IGH tatsächlich "unvollständige oder falsche Angaben gemacht haben", würde dies "die deutschen Doppelstandards in aller Deutlichkeit offenbaren und damit die Glaubwürdigkeit Deutschlands und den Einsatz für die regelbasierte Weltordnung infrage stellen", sagte er gegenüber dem stern und Drop Site.

Das Auswärtige Amt lehnte auf Anfrage eine Stellungnahme zu den in Den Haag gemachten Angaben ab.

Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 13. Mai 2025 hat die Bundesregierung Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter nach Israel im Wert von 485,1 Millionen Euro erteilt. Diese Exporte könnten laut Güterlisten etwa Teile für gepanzerte Fahrzeuge, Kampfpanzer und Haubitzen oder auch Gewehr-, Kanonen- und Haubitzenmunition beinhalten. 

Die Lieferungen von medizinischen Hilfsgütern und Helmen, auf die sich Deutschland vor dem IGH beruft, fanden wahrscheinlich Ende 2023 statt. So behauptete die Bundesregierung in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage vom Januar 2025, dass die Bundeswehr im Jahr 2024 kein entsprechendes Material an Israel übergeben habe. Auf eine parlamentarische Anfrage, bezogen auf das Jahr 2023, verweigerte die Regierung unter Hinweis auf die Sicherheitsinteressen Deutschlands die Antwort.

Obwohl die Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz Anfang August zunächst einen vorläufigen Exportstopp von Waffen, die in Gaza eingesetzt werden könnten, angekündigt hatte, hat sie nach eigenen Angaben im Zeitraum vom 13. bis 22. September wieder Rüstungsexporte im Wert von mindestens 2,46 Millionen Euro für Israel genehmigt. Darunter befänden sich jedoch keine Kriegswaffen, sondern ausschließlich "sonstige Rüstungsgüter".

Seit der am 10. Oktober in Kraft getretenen brüchigen Waffenruhe im Gazastreifen ist unklar, wie es mit dem deutschen Teilwaffenembargo weitergeht. Ein Sprecher der Bundesregierung verwies auf eine Aussage von Bundeskanzler Friedrich Merz. Demnach werde die Bundesregierung ihre "Genehmigungspraxis zum Export von Rüstungsgütern nach Israel, die in Gaza zum Einsatz kommen können, im Lichte der Entwicklungen vor Ort überprüfen". Allein in der Nacht auf Mittwoch wurden bei israelischen Angriffen im Gazastreifen laut den von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden 104 Palästinenser getötet. 

Nach ihren Angaben wurden seit dem 7. Oktober 2023 über 68.000 Palästinenser bei israelischen Angriffen auf den Gazastreifen getötet. Laut israelischen Angaben handelt es sich bei mehr als 80 Prozent der Getöteten um Zivilisten.

Dieser Artikel ist eine Kooperation mit Drop Site News.

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