Nord-Indien Die Menschen sterben leise

Von Teja Fiedler, Mumbai
Tierkadaver treiben im Wasser, Aasgeier ziehen ihre Kreise und überall riecht es nach Verwesung. Die Flutkatastrophe im indischen Bihar hat über zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Als erster Deutscher war Florian Seeger von Malteser International vor Ort und schildert seine Eindrücke.

Ein Kontrast wie ein Schlag in die Magengrube. Stundenlang nur Reisfelder, blühende Dörfer und geschäftige Menschen. Und dann plötzlich Wasser, nur noch Wasser. Mittendrin: zerstörte Hütten, aufgeweichte Deiche, ausgehungerte, von Durchfall geplagte Menschen. Auf den herumtreibenden Tierkadavern sitzen schon die Aasgeier und überall riecht es nach Verwesung. Florian Seeger vom Malteser International ist einer der ersten Helfer in den Überschwemmungsgebieten im Norden Indiens und hat stern.de erzählt, wie es in der Katastrophenregion, wo die Fluten des Kosi über zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben haben, aussieht.

In den Lagerstädten leben Zehntausende von Menschen. Slums im Grünen, in denen seit fast vier Wochen Menschen in Zelten aus Zweigen und Plastikbahnen ausharren und warten, warten auf Hilfe. Viele von ihnen sind in der Nacht von den Fluten überrascht worden und konnten nur ihr nacktes Leben retten. Dort, wo das Wasser noch immer bis fast an den Rand eines der provisorischen Zeltdörfen reicht, sitzt ein etwa vierzigjähriger Mann in einem halb lecken Boot, mal geistesabwesend vor sich hinstarrend, dann plötzlich auf aufschluchzend oder hysterisch lachend. Zu zusammenhängenden Sätzen ist er nicht mehr fähig. Doch immer wieder stößt er einzelne Satzfetzen hervor: "Alle tot. Ganze Familie. Meine Söhne, wo sind sie?"

30 Dörfer wurden allein in dem Gebiet, das Florian Seeger übersehen konnte, von den Fluten völlig weggeschwemmt. Noch weiß niemand, wie viele Menschen dabei ums Leben gekommen sind. Die offizielle Zahl der bisher geborgenen Leichen, also etwas über 100, spiegele das wahre Ausmaß der Katastrophe sicher nicht wider, so Seeger. "Ich gehe von vielen hunderten, wahrscheinlich sogar tausenden Toten aus." Die ganze Tragödie wird erst deutlich werden, wenn der Wasserstand nach Ende der Regenzeit fällt. Erst dann kann man die Leichen bergen, "wohl nur noch als Skelette", wie ein alter Mann bitter bemerkt.

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In den meisten Flüchtlingscamps fehlt es noch immer am Nötigsten. Sauberes Wasser ist das dringlichste Problem. Die meisten Flüchtlinge müssen die verschmutzte Brühe trinken. Sie können sie nicht einmal abkochen, denn ihnen fehlen sowohl Töpfe als auch Brennmaterial. Eine der Folgen: Durchfall, der vor allem für die Alten und die Kleinkinder tödlich enden kann. Die Zahl der Infektionen nimmt mit jedem Tag zu. Genau wie der Hunger. Denn viele der Lager werden von den Hilfslieferungen noch immer nur spärlich oder gar nicht erreicht. Manche der Flüchtlinge versuchen, tagsüber auf eigene Faust irgendwo etwas Essbares zu besorgen. Sie waten durch die Fluten ungeachtet der Lebensgefahr: Denn die Strömungen in dem großen See, der einst der Kosi-Fluss war, sind noch immer stark und tückisch.

Hilfsgüter aus der nahen Umgebung

Seeger kauft jetzt in Neu Delhi tragbare Wasserfilter ein, die ganz einfach zu bedienen sind, dazu dauerhaft imprägnierte Moskitonetze wegen der wachsenden Malariagefahr. Der Malteser-Helfer versucht auch Öfen, Kochgeschirr, Planen, Werkzeug, Decken und Wasserkanister aus der nahen Umgebung des Überschwemmungsgebiets zu besorgen. "Das ist viel sinnvoller, als sie aus Deutschland einfliegen zu lassen. Das spart uns Transportkosten und Zeit."

Doch noch ist nicht einmal klar, ob die Fluten die letzten gewesen sein werden. Ausgelöst wurde die Überschwemmung des Kosi-Flusses durch einen geborstenen Damm in Nepal, und erst repariert werden kann, wenn der Monsun aufgehört hat - und das wird noch bis Ende Oktober dauern. Deshalb fürchten die Menschen nun eine weitere Flutwelle. Zwar ist der Wasserstand zuletzt leicht zurückgegangen, dennoch raten die Behörden dringend darum, in den Flüchtlingslagern zu bleiben.

Viele der Dämme, die bisher gehalten haben, sind vom Regen durchweicht und schwach. Sollte der Niederschlag wieder stärker werden, drohen sie zu bersten. Eine zweite Monsunwelle im Oktober, und damit mehr Regen, gehört in Bihar zum normalen Wetterverlauf. Trotzdem wollen die meisten Lagerbewohner so schnell wie möglich zurück. Dorthin wo ihre Dörfer sind - oder waren. Schließlich könnte sich ja das eine oder andere Stück Vieh auf ein erhöhtes Stück Land gerettet haben. Schließlich könnte ja wie durch ein Wunder auch noch einer von den Angehörigen am Leben sein, die, zu alt, zu schwach oder einfach nicht bereit waren, vor dem Wasser davon zulaufen.

An der Grenze zu Nepal sind die Menschen an Hochwasser gewöhnt. Kleine Überflutungen während der Monsunzeit sind den Bauern geradezu willkommen, weil der Schlamm, den sie mitbringen, die Felder düngt. Doch die Überschwemmung in diesem Jahr habe wegen des Dammbruchs mit Wassermassen vierzig Mal so heftig wie im Jahr zuvor die Region heimgesucht, erfuhr Seeger von indischen Behördenvertretern. Und die Bauern im Flussgebiet des Kosi, sonst selten mit den Worten der Politiker einverstanden, nickten diesmal zustimmend: "Ja, das ist die schlimmste Überschwemmung seit Menschengedenken."

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