Angesichts der sich massiv ausbreitenden Omikron-Variante hat der Corona-Expertenrat der Bundesregierung vor einer extremen Belastung des Gesundheitssystems sowie der gesamten kritischen Infrastruktur gewarnt. Der Grund: Die Omikron-Variante wird als deutlich ansteckender eingeschätzt. Sollten demnach viele Menschen zeitgleich krank werden oder in Quarantäne müssen, stünde die Einsatzfähigkeit von Polizei und Feuerwehr sowie Strom- und Wasserversorgung auf der Kippe.
Aus Sicht der Experten muss die Politik schnell handeln, um eine Eskalation der Lage zu verhindern. Die Einschätzungen des Rats dienen daher als Grundlage für die Bund-Länder-Runde, die am heutigen Dienstag über verschärfte Pandemiemaßnahmen berät. Was im Worst-Case-Szenario auf die Menschen in Deutschland zukommt, erklärt Andreas Kling, Experte für Bevölkerungsschutz, im Gespräch mit dem stern.
Der Expertenrat der Bundesregierung warnt vor einem Zusammenbruch der kritischen Infrastrukturen angesichts einer drohenden Omikron-Welle. Halten Sie diese Warnung für berechtigt, Herr Kling?
Ich kann es nicht hundertprozentig sagen. Die Frage ist: Stimmen die Prognosen der Krankheitszahlen, mit denen der Expertenrat arbeitet? Also, dass – unabhängig von der Schwere des Verlaufs – gleichzeitig so viele Menschen an Corona erkranken, dass die kritische Infrastrukturen nicht funktionieren?
Kritische Infrastruktur
sind laut Bund "Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden."
Ich würde mich eher auf den schlimmsten Fall vorbereiten. Ob es wirklich so kommt, kann ich nicht sagen. Dafür kenne ich die Annahmen des Rates zu wenig. Das ist ja aktuell auch die Kritik am Expertenrat, dass nicht klar ist, aus welchen Quellen der Rat seine Informationen bezieht.
Bei Krankenhäusern, Feuerwehr und Polizei erscheint die Warnung nachvollziehbar. Aber sind etwa Stromanbieter trotz Automatisierung noch abhängig von viel Personal?
Das ist ein Trugschluss. Wenn in einem Bereich viele Menschen arbeiten, heißt das ja nicht, dass er sicherer ist. Umgekehrt heißt ein hoher Grad an Automatisierung nicht, dass ein Bereich unsicherer ist. Im Krankenhaus können zum Beispiel Medizinstudenten bestimmte Aufgaben übernehmen und andere pensionierte Ärzte, die zurückgeholt werden. Bei Stromversorgern oder in Wasserwerken gibt es diese Möglichkeit nicht, weil da viel weniger Personal im Einsatz ist.
In welchem Bereich ist die Lage am kritischsten?
Natürlich im Gesundheitswesen, wo das Personal seit zwei Jahren am Anschlag oder darüber hinaus arbeitet und teilweise ausgebrannt ist.
In anderen Bereichen ist die Anfälligkeit regional unterschiedlich und hängt davon ab, wie sehr die Betreiber vorgesorgt haben. Am schwerwiegendsten wäre sicherlich der Ausfall der Wasserversorgung, des Stroms und des Internets.
Würde der Zusammenbruch in diesem Bereich einen Domino-Effekt nach sich ziehen?
In unserer hoch technisierten Gesellschaft sind die Bereiche stark voneinander abhängig. Ohne Strom funktioniert die Wasserver- und -entsorgung nicht mehr. Ohne Internet funktioniert die Logistik etwa zur Belieferung von Supermärkten nicht mehr.
Was sollten Bund und Länder Ihrer Meinung nach heute beschließen?
Schwer zu sagen, denn ich bin Experte für Bevölkerungsschutz und kein Politiker. Die Ministerpräsidentenkonferenz muss andere Interessen gegeneinander abwägen. Etwa: Wie geht man mit dem Teil der Bevölkerung um, der die jetzige Lage mit verursacht hat? Impfmüde und Querdenker beklagen sich ja oft über Alarmismus. Nach dem Motto "War ja nicht so schlimm!"
Andreas Kling
Jahrgang 1967, ist unter anderem selbstständiger Berater für Bevölkerungsschutz. Seine Schwerpunkte sind Kritische Infrastrukturen, Sicherheit und Logistik.
Mit Blick auf die kritischen Infrastrukturen kann die Ministerpräsidentenkonferenz gar nicht mehr agieren, denn der Bevölkerungsschutz und die bessere Vorbereitung auf einen Katastrophenfall ist in den letzten Jahren versäumt worden. Selbst Polizei, Verwaltung und Bundeswehr wären nur sehr eingeschränkt handlungsfähig. Insofern muss die MPK die Ausbreitung der Omikron-Variante so gut es geht bremsen.

Was können Bürgerinnen und Bürger in der kurzen Zeit vor Weihnachten noch tun, um sich für den Notfall zu wappnen?
Im Grunde dasselbe, was ich seit Jahren rate: krisenfester werden. Das heißt: Vorräte für fünf bis sechs Tage im Haus haben. Ohne Wasser können Sie zum Beispiel nicht einmal die Nudeln kochen, die sie vielleicht noch im Schrank haben. Ohne Wasserversorgung funktioniert auch die Toilettenspülung nicht mehr. Überlegen Sie sich, was sie bräuchten, wenn Sie fünf bis sechs Tage nicht im Supermarkt einkaufen könnten. Bei benötigten Medikamenten würde ich sogar noch einen größeren Vorrat anlegen. Und achten Sie auch darauf, dass Familie und Freunde ähnlich gut versorgt sind.