Markus Just ist am Ende. Mit brennenden Armen und Oberschenkeln hockt er auf dem Hallenboden. Er weiß nicht, woher er die Kraft für einen weiteren Strecksprung nehmen soll. Nach 15 Minuten Seilspringen, zehn Minuten schnellem Laufen auf der Stelle, nach wuchtigen Hieben in die Luft, bei denen Just Hanteln von einem halben Kilo Gewicht in den Fäusten halten musste, geht sein Atem in Stößen, und das kurze, hellblonde Haar klebt am Kopf. Markus Just ist am Boden. Dann stemmt sich der 30-Jährige noch einmal hoch, reckt sich zur Hallendecke, und in den letzten Strecksprung hinein schrillt die Trillerpfeife der Trainerin. "Zeit! Drei Minuten ausruhen!"
Box ohne Kampf
Markus Just ist Fitnessboxer. Zweimal pro Woche trainiert der Bauingenieur beim BSV 19, der Boxabteilung im Bahrenfelder Sportverein, in der Alsterdorfer Sporthalle im Norden Hamburgs. An diesem Abend hüpfen, schlagen, schwitzen mit ihm zusammen sechs Frauen und elf Männer in der flachen, fensterlosen Halle. Just hat noch nie einen Kampf gemacht. Seine Nase ist gerade, sein Gesicht frei von Narben. Das Veilchen, das im vergangenen Jahr sein linkes Auge schwarzblau färbte, holte er sich während einer Rempelei - beim Basketballspielen.
Die Spielarten des Boxens
Mal mit Musik, mal in die Luft: Sportklubs und Fitnessstudios bieten Fausttraining in verschiedenen Varianten an.
Box Power
Boxtraining mit Musik, das in manchen Fitnessstudios angeboten wird. Die Teilnehmer lernen Schlagkombinationen, Schrittfolgen und treffen in den Partnerübungen die Handschuhe ihres Gegenübers. Das Seilspringen wird durch Armdrehungen in der Luft imitiert.
Tae Bo
Erfunden von dem Amerikaner Billy Blanks, vereint Tae Bo Kickbox- und Boxelemente, also Tritte und Schläge, zu Musik. Die Sportler stehen gemeinsam vor dem Spiegel. Die Schläge werden nicht vor einen Widerstand, sondern in die Luft ausgeführt. Die Gruppe führt die Übungen synchron aus. Weil der Begriff Tae Bo geschützt ist, bieten einige Studios den Kurs unter anderem Namen, aber mit gleichem Inhalt an: als Thai-Do oder X-Do.
Kickboxfitness (KBF)
Ganzkörperfitness ohne Partner, aber mit Musik. In der Aufwärmphase wird unter anderem Seilspringen simuliert, dann folgt ein Zirkeltraining. Die Teilnehmer schlagen auf so genannte Standing Bags: Boxsäcke, deren Füße mit Wasser oder Sand gefüllt sind. Die Kurse dauern 20 bis 60 Minuten, die Teilnehmer tragen Trainings- oder Ballhandschuhe.
Reality Fight
Seilspringen, Gymnastik, Schattenboxen - diese Elemente machen die Aufwärmphase aus. Dann lernen die Teilnehmer Kampfsporttechniken: Tritte und Schläge des aus China stammenden Wing Chun und Thai-Box-Tritte. Der Partner darf getroffen werden. "Sinn der Übungen ist, einen realistischen Angriff abzuwehren und dann selber zu kontern", sagt Trainer Thai Le. "Wer regelmäßig zum Training kommt, kann sich mit Reality Fight verteidigen."
Immer mehr Fitnessboxer trainieren, ohne je in den Ring zu steigen. Innerhalb von zehn Jahren stieg die Mitgliederzahl des Deutschen Boxsport-Verbandes um 14 Prozent auf 60.000. Die Hälfte macht nur das Kraft- und Konditionstraining mit - und hat noch nie den Handschuh eines Gegners im Gesicht gespürt. So viele wollen beim "Null-Kontakt-Boxen" mitmachen, dass die Sportler des Hamburger Vereins BC Heros aus Platzmangel bereits auf den Fluren trainieren: für acht Euro pro Monat. Der Sport mit dem Proll-Image ist seit den Erfolgen Henry Maskes gesellschaftsfähig, sogar Promis wie Kai Pflaume trainieren mit Handschuhen und Springseil. Doch was bringt das Fitness-boxen wirklich?
Training für den ganzen Körper
"Sie werden kaum einen Sport finden, der so viele Bereiche des Körpers beansprucht", sagt Rüdiger Reer, stellvertretender Leiter des Instituts für Sport- und Bewegungsmedizin in Hamburg. Schulter, Nacken, Arme, Hände, Beine, Rumpf. Alles arbeitet, wenn Boxer trainieren. Denn jeder Schlag wird durch die Drehung der Hüfte, durch Schrittfolgen der Beine unterstützt. Erst durch die Bewegung des ganzen Körpers kommt Wucht und Explosivität in die Schläge. Im Boxtraining werden vor allem vier Fähigkeiten trainiert:
> Kraft
- durch Liegestütze, Streck-sprünge, das Stoßen von Medizinbällen.
> Ausdauer
- durch gleichmäßige, schnelle Schläge im Drei-Minuten-Takt und Seilspringen bei hoher Schlagfrequenz.
> Schnelligkeit
- durch Partnerübungen, bei denen auf Kommando in die offene Faust des Gegenübers geschlagen wird.
> Beweglichkeit
- durch das Kreisen der Hüfte und Drehen der Arme.
Ein guter Amateurboxer erreicht dank seines Trainings den Fitnessgrad eines olympischen Ruderers. Und er verbraucht laut einer amerikanischen Studie 674 Kilokalorien pro Stunde. So viel wie ein Jogger, der mit neun Stundenkilometern 60 Minuten läuft. Henry Maske, berühmt für das unerbittliche Training, durch das ihn sein Coach Manfred Wolke schickte, verdampfte während einer Trainingseinheit zweieinhalb Kilo Gewicht.
Altertümliches Training
Doch nicht in allen Klubs wird nach modernen Methoden trainiert, ein Boxeinsteiger sollte sich die Vereine, die für ihn infrage kommen, genau anschauen. So wurde in Markus Justs Verein lange auf altertümlich anmutende Weise die Kraft trainiert: Noch vor einem Jahr mussten die Sportler mit einem meterlangen Holzhammer auf einen Autoreifen schlag en. "Eine sehr alte und sehr gute Ganzkörperübung. Die Kraft kommt aus Beinen, Rumpf, Schultern, Oberarmen", sagt Boxtrainerin Marion Einsiedel. "Leider hat dann jemand den Hammer mitgehen lassen." Die Holzhammermethode und ähnlich rabiate Übungen sind für den erfahrenen Sportler vielleicht die Krönung - für den untrainierten Anfänger können sie eine Überlastung bedeuten. Oder den ersten Schritt zum Sportarzt. Just zum Beispiel trainiert mit der so genannten Nackenbrücke: Er baut auf dem Rücken liegend eine Brücke, wobei er sich auf Fersen und Hinterkopf stützt. Po und Schultern werden angehoben. Das Ergebnis: Vor allem die Nackenmuskulatur hält das Gewicht des Oberkörpers.
"Eine Schlachtermethode"
"Das ist ja grauenvoll, eine Schlachtermethode", bewertet der Sportarzt Til Steinmeier diese Übung. "Sie staucht die Halswirbelsäule, und das kann nachhaltig den Gleichgewichtssinn stören." Ein- bis zweimal am Tag kommen Fitnessboxer in seine Praxis in der Hamburger Innenstadt. Die Diagnose: eingeklemmte Sehnen in der Schulter, Schleimbeutelentzündung unter dem Schulterdach durch die ungewohnten Schlagbewegungen. "Ausdauer, Kreislauf, Kondition passen sich schnell an, wenn man regelmäßig trainiert", so Steinmeier. "Doch alle Körperpartien, die nicht durchblutet werden - Knochen, Gelenkkapseln, Sehnen -, müssen bis zu einem Jahr behutsam trainiert werden, um sich an die Schlagbewegung zu gewöhnen." Denn trotz des Hau-Drauf-Images "ist Boxen eine hoch entwickelte, technische Kunst".
Ein weiteres Problem: Die notwendige Betreuung fehlt in vielen Boxvereinen. "Auf 30, 40, manchmal 60 Fitnessboxer kommt ein Trainer", sagt Christian Görisch, 34, Dritter bei den deutschen Meisterschaften im Leichtgewicht. Görisch ist Diplomsportwissenschaftler und der Erfinder von Box-Out, einem Boxtraining für Fitnessstudio-Besucher. Box-Out verzichtet auf Choreografien, auf gemeinsame Übungen im Takt, auf Aerobic-Elemente. Stattdessen gibt es Zirkeltraining: Liegestütze, Seilspringen, Sit-ups, dazu wummert House-Music.
Kirsten Kühl, 30, Physiotherapeutin, trainiert seit zwei Jahren jede Woche Box-Out. Ihre Hände, deren Knöchel und Handgelenke durch Bandagen geschützt sind, stecken in himmelblauen Boxhandschuhen. Vor der Spiegelwand übt sie die so genannte Grundschule: die Technik der maßgeblichen Boxschläge und Ausweichbewegungen, um den Schlägen einer fiktiven Gegnerin zu entgehen. Danach ruft Trainer Christian Görisch sie in die Mitte der Halle. Einzelübungen. Auf Kommando muss sie in seine geöffneten Handschuhe schlagen. "Schneller! Links-rechts." Schnaufend stößt sie ihre Fäuste vor. "Explosiver! Noch mal!", treibt er sie an, mit einem hellen Patschen knallen Kühls Fäuste ins Ziel. Übungen mit und gegen einen Partner, der den offenen Handschuh als Zielscheibe bietet, sind entscheidend für das Boxtraining. Denn Schläge gegen ein bewegliches Ziel trainieren Schnelligkeit und Reaktionsvermögen. Außerdem werden durch den Widerstand die Muskeln angespannt, und der Fitnessboxer lernt, nicht bis zum Gelenkanschlag durchzuziehen. Schläge, die nicht treffen, können sonst zu Überdehnungen führen. In richtigen Boxklubs sind diese Übungen Vorstufe zum so genannten Sparring, bei dem der Gegner getroffen werden darf und soll. Das kommt für Kirsten Kühl nicht infrage - weil sie jemand anderem nicht ins Gesicht schlagen will und "weil ich auch Angst um meine Nase habe".