Samstag, 11. September. Tag eins der Operation, abends vor dem Johns Hopkins Hospital. Die Anspannung verkrampft Nellys rechte Hand. Die Finger sind eingerollt, die Nägel krallen in die Innenhand. Nicht einmal, um die Tränen wegzuwischen, lässt sie locker, reibt einfach mit der geschlossenen Faust übers Auge. Nelly ringt um Fassung. Bleibt aber fassungslos. Vor ein paar Minuten hat sie erfahren, dass die Ärzte den Eingriff abgebrochen haben.
Nach acht Stunden. Erst einmal nicht weitermachen wollen, weil es Tabea nicht gut geht. Vielleicht gar nie weitermachen können. Keiner will sich da festlegen. Wie soll sie diese Ungewissheit aushalten? Diese Angst um die Kinder. Diese Angst vor den nächsten Stunden, vor den nächsten Tagen. Diese Angst vor der Zukunft überhaupt. Wie nah war der Tod Tabea, wie nahe ist er ihr immer noch?
Verzweifeltes Hoffen spiegelt sich im Gesicht der jungen Mutter, als sie mit ihrem Mann Peter die paar Meter von der Klinik zu ihrem Nachtquartier im Children's House geht.
Sonntag, 12. September.
Tag zwei. Die Operation ist noch immer unterbrochen. Abends im Children's House. Nelly geht es besser. Ein bisschen besser zumindest. Gerade hat sie für ein paar Minuten Lea und Tabea gesehen. Konnte mit sterilen Handschuhen die winzigen Hände ihrer Zwillinge streicheln. "Der Anblick war nicht schön, mit den Schläuchen, die aus ihren kleinen Körpern kommen und den Schrauben in ihren Wangenknochen, mit denen ihre Köpfe am OP-Gestell fixiert sind", sagt sie.
"Aber es hat mich beruhigt, sie so friedlich schlafen zu sehen. Ich habe Tabea gesagt, dass ich da bin, dass sie es schafft. Ich hoffe, sie hat es gehört - trotz Narkose. Und Peter hat Lea zugeflüstert, dass sie jetzt ein bisschen Geduld haben muss, bis sich der Kreislauf von Tabea stabilisiert hat und die Ärzte weiteroperieren können." Warten, beten - mehr bleibt den Eltern an diesem Abend nicht.
Peter und Nelly halten aus, was eigentlich nicht auszuhalten ist. Denn zu diesem Zeitpunkt wissen sie schon seit 24 Stunden, dass Tabeas kleines Herz für einen Moment aufgehört hatte zu schlagen.
Wäre alles wie geplant gelaufen, hätten an diesem Abend vielleicht schon zwei getrennte Kinder in zwei Betten auf der Intensivstation gelegen. Doch es kam anders.
Mittags um halb eins am Samstag hatten die Ärzte bei den Mädchen das Skalpell angesetzt - der erste Schnitt. Seit Freitagmittag schon lagen die Zwillinge in Narkose. Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen, die zur Versorgung notwendigen Zugänge und Kabel komplett verlegt, auch die zentralen Venenkatheter, mit denen Medikamente und Transfusionsblut zugeführt werden können.
Gegen halb drei am Nachmittag dann war die erste Phase der OP erfolgreich überstanden. Die plastischen Chirurgen hatten die sechs mit Kochsalzlösung gefüllten Expander entfernt, mit denen Leas und Tabeas Kopfhaut über Wochen gedehnt worden war. Später würde das kostbare Gewebe die Wunden der Kleinen abdecken. Jetzt wurde es vorsorglich um zwei große "Ballons" aus Silikon genäht, damit es sich in den nächsten Stunden nicht wieder zusammenziehen konnte. Alles verlief zufriedenstellend. Die Neurochirurgen begannen mit der eigentlichen Trennung.
Nachdem die Knochenhaut über den beiden zusammengewachsenen Köpfen geöffnet war, wurde planmäßig ein breiter Knochenstreifen entnommen, der Lea und Tabea bis dahin verbunden hatte. Die Operation erreichte das erste kritische Stadium. Jetzt mussten die Ärzte die harte Hirnhaut trennen, das erste gemeinsame Gefäß der beiden aufteilen. Würden die Kinder das verkraften? Die Kreisläufe stabil bleiben?
Keine Komplikationen! Der Schnitt gelang. Für die Chirurgen unter Benjamin Carson war der Weg frei, sich weiter zwischen den beiden Gehirnen vorzuarbeiten. Noch mehr Venen verbanden Lea und Tabea. Jetzt zahlten sich die wochenlangen Planungen und Probeläufe aus. Sogar schneller als erwartet kam das Team voran. Gegen sechs Uhr abends wurde das eigens für die Zwillinge entworfene OP-Gestell zum ersten Mal um 180 Grad gedreht. An den Hinterköpfen wollten die Ärzte nun ein gemeinsames Knochenstück entfernen, unter dem ein weiteres kompliziertes Venengeflecht verläuft.
Es ist viertel vor acht am Abend, als die Anästhesisten Alarm schlagen. Tabeas Kreislauf kollabiert. Das Herz steht still. Kurz darauf gelingt es den Ärzten, Tabea zurückzuholen. Auf die Medikamente spricht sie sofort an. Der kleine Körper erholt sich. Aber noch immer zittern die Kurven auf den Monitoren im OP-Saal.
Leas Kreislauf übersteht den Kampf ihrer Schwester ohne Probleme. Kurz nach acht ein weiterer Zwischenfall. Wieder müssen die Ärzte bei Tabea eingreifen. Wieder haben sie Erfolg.
Carsons Team muss nun entscheiden, wie es weitergehen soll. Auf keinen Fall wollen sie das Leben der Mädchen gefährden. Ihre Körper sollen Zeit bekommen, sich zu erholen. Grund zur Eile besteht nicht. Denn bei der Trennung sind die Chirurgen schon weiter, als sie erhofft hatten. Höchstens sechs oder sieben Stunden noch, so vermuten sie, und alles wäre geschafft.
Dann fällt die Entscheidung. Abbruch der OP. Abwarten.
"Was wir so sehr gefürchtet hatten, war eingetreten", sagt Nelly. Peter: "Wir standen im ersten Moment unter Schock." Die Eltern brauchen Stunden, um zu begreifen, dass die Ärzte für das Leben der Kinder die richtige Wahl getroffen haben. Mit Titanplatten schützten die Chirurgen die Gehirne der Zwillinge, vernähten darüber die Haut. In ihrem OP-Gestell wurden Lea und Tabea auf die Intensivstation geschoben.
Am nächsten Morgen ist Benjamin Carson ins Children's House gekommen. Er beruhigte Nelly und Peter, sagte ihnen, er habe weiter Hoffnung, die Operation in ein paar Tagen fortsetzen und erfolgreich abschließen zu können. Da ist Tabeas Kreislauf noch immer nicht völlig stabil. Die Ungewissheit zerrt an den Eltern. Gott muss weiter aufpassen auf Lea und Tabea.
Anette Lache/Frank Ochmann