Die frühen Menschen waren offenbar härter im Nehmen als gedacht: Ging man bisher davon aus, dass sie vor allem in Südeuropa lebten, weil es nördlich der Alpen und Pyrenäen zu kalt für sie war, zeigen neue Grabungsfunde in England etwas anderes. Demnach kamen die ersten Menschen vermutlich schon vor rund 800.000 Jahren aus Afrika nach Europa und ließen sich dort nieder - in Regionen mit Wintertemperaturen von unter null Grad und vermutlich ohne wärmende Hilfsmittel wie Feuer oder Kleidung. Darauf deuten Artefakte hin, auf die die Forscher um Simon Parfitt vom University College London gestoßen sind. Die Wissenschaftler berichten im Fachmagazin "Nature" über ihre Entdeckung.
Bei den Ausgrabungen an der ostenglischen Küste bei Happisburghin der Grafschaft Norfolk konnten die Wissenschaftler mehr als siebzig aus Feuerstein bearbeitete Werkzeuge bergen. Die zur Jagd und zum Anzünden von Feuer benutzten Feuersteinsplitter belegen, dass die ersten Briten Jäger und Sammler waren. Außerdem fanden sie Fossilien von Pflanzen wie Kiefernzapfen oder von Tieren wie Mammuts; fossile Überreste der Frühmenschen von Happisburgh waren nicht darunter. Das Klima war den Forschern zufolge deutlich rauer als heute.
Paläontologen waren bisher davon ausgegangen, dass es im frühen Pleistozän vor 780.000 bis 1,8 Millionen Jahren eine natürliche Temperaturgrenze für die Ausbreitung der Menschheit gab. Sie setzten diese am 45. Breitengrad an, der in Europa durch Südfrankreich, Norditalien und Rumänien verläuft. Die bisher einzige bekannte Ausnahme einer Siedlung oberhalb dieser Grenze liegt bei Pakefield in Südengland. Funde aus dieser Region von 2005 führten zu den Annahme, dass in einer kurzen Phase der Klimaerwärmung vor 700.000 Jahren die ersten Menschen in England aufgetaucht sein müssen. Die von den britischen Forschern nun gefundenen Werkzeuge sind jedoch mindestens 100.000 Jahre älter, was die Regel vom 45. Breitengrad widerlegt. Die Entdeckung der gefundenen Steinwerkzeuge sei "unglaublich wichtig", sagte Nick Ashton vom British Museum. "Sie sind nicht nur viel älter als andere Funde, sie sind auch mit einer einmaligen Reihe von Umweltdaten verbunden, die ein klares Bild der Vegetation und des Klimas ergeben."
An die kalten Bedingungen angepasst
Die Menschen hatten sich vor rund 800.000 Jahren offenbar an die kalten Bedingungen des Nordens angepasst, schreiben die Wissenschaftler. "Sie siedelten in einem grasbedeckten Flussgebiet, in dem Mammuts, Nashörner und Pferde lebten, die von Säbelzahntiger und Hyänen gejagt wurden - und natürlich vom Menschen", berichtet Parfitt.
Das Alter der Werkzeuge bestimmten die Forscher über verschiedene Lagen von Sedimenten an der Ausgrabungsstätte, die mit der Veränderung des Magnetfeldes der Erde verglichen wurden. Sie untersuchten zudem Spuren von damaligen Pflanzen und Tieren und bestimmten ihr Alter, indem sie vorliegende Daten zum Auftauchen und Aussterben dieser Arten heranzogen.
In der Gegend der Fundstelle war es den Forschern zufolge im Sommer im Schnitt zwischen 16 und 18 Grad warm, im Winter lag die Durchschnittstemperatur bei minus drei Grad. Wie genau die Frühmenschen unter diesen Bedingungen überleben konnten, ist noch unklar. Offen ist beispielsweise, ob sie im Winter weiter nach Süden zogen, sich ihre Körper an die kalte Umgebung anpassten oder sie schon über Kleider, Unterkünfte und Feuer verfügten. Dies soll nun durch weitere Ausgrabungen geklärt werden.