Der eben veröffentlichte Weltarbeitsbericht für 2011 zeichnet ein ziemlich düsteres Bild unserer Gesellschaften rund um den Globus. Insbesondere gilt das für die soziale Stabilität angesichts der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise, die auch und besonders Europa fest im Griff hat. Die Weltarbeitsorganisation (ILO) sagt darum für viele Länder zunehmende soziale Unruhen voraus, falls es dort nicht gelingt, die Unterschiede zwischen Arm und Reich zu verringern. Es geht bei den Spannungen tatsächlich um diese Differenz, nicht darum, wie hoch der Lebensstandard absolut gesehen ist. Darum hilft es auch keinen Griechen, Portugiesen oder Deutschen, wenn sie - zumeist aus Unternehmerkreisen - auf die doch viel schlimmeren Verhältnisse in Bangladesch oder unter chinesischen Wanderarbeitern hingewiesen werden.
Das ist der entscheidende Punkt: Nicht mehr Wachstum, nicht eine bessere Konjunktur und eine Einkommenssteigerung für alle, sondern eine Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb ein und desselben Gemeinwesens ist der Schlüssel zur Beruhigung der sozialen Lage. Arbeitslosigkeit und verfügbares Einkommen sind nach dem Befund der ILO die beiden Größen, von denen Zufriedenheit und Stabilität am deutlichsten abhängen. Also entscheidet sich auch an dieser Stelle das Wohl oder Wehe einer Gesellschaft.
Keine Frage der Moral
Ist es nicht gefährlich, solche Prognosen zu geben? Das ist ja ein oft gehörter Vorwurf, wann immer von möglichen sozialen Unruhen die Rede ist: Durch die öffentliche Debatte in den Medien würde das Thema überhaupt erst zum echten Problem. Als etwa 2009 der DGB Vorsitzende Michael Sommer und Gesine Schwan, die damalige SPD-Präsidentschaftskandidatin, vor wachsendem Unmut in der Bevölkerung warnten, wurden sie von Feind und Freund dafür getadelt. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht …
Dabei ist die Gefahr real und lässt sich durch Maulkorberlasse selbstverständlich nicht bannen. Denn es scheint zum Menschen zu gehören - und auch zum Wesen anderer Primaten, wie inzwischen beobachtet wurde -, dass Ungleichheit ab einem gewissen Punkt unangenehm wird. Gleich vorweg: Wer etwas gegen solche Unterschiede hat, ist deshalb noch nicht "gut". Wir müssen gar nicht die Moral bemühen. Denn die kommt von "außen", ist Folge komplexer gesellschaftlicher Wertebildung und darum veränderlich. Anders unser wachsendes Unbehagen bei wachsenden ungleichen Verhältnissen: Das sitzt offenbar sehr tief in uns und tritt zutage, wenn wir dem Kleinkindalter halbwegs entwachsen sind.
Eine neue Harvard-Studie zeigte einen deutlichen Altersunterschied beim Gefühl für Fairness. Um das zu testen dienen oft Verteilungsspiele: ein bestimmtes Kapital soll nach Regeln oder auch Gutdünken unter den Mitspielern aufgeteilt werden. Dieses einfache Muster lässt sich durch bestimmte Rollen und Regeln variieren und der gewünschten Fragestellung der Experimentatoren anpassen.
Im genannten Fall wiesen Kinder im Vorschulalter Angebote mit ungleich verteiltem Kapital zurück, sobald sie selber im Nachteil waren. Waren sie im Vorteil, nahmen sie das Angebot an. Soviel zur angeborenen Selbstlosigkeit. Die Frage einer möglichen Ungerechtigkeit und ob sie den größeren Anteil auch verdient hatten, schien sich ihnen nicht zu stellen. Ganz anders sah das bei Kindern aus, die einige Jahre älter waren. Sie wiesen einen ihrer Ansicht nach übergroßen Anteil am Kapital auch dann zurück, wenn sie sich dadurch um einen beachtlichen Vorteil brachten. Warum sie das taten, beschreibt der Titel dieser Studie: "Ich hatte so viel. Das schien nicht fair zu sein."
Schwindendes Vertrauen
Wir sind noch immer beim Bericht der Weltarbeitsorganisation. Mit den skizzierten Studien und vielen mehr hat der insofern zu tun, als durch die Forschung klar wird, dass es die Ungleichheit ist, die gesellschaftliche Verhältnisse aufheizen kann. Keineswegs ist unser Trieb hin zum Egalitären ein Widerspruch zu unserem doch auch zu beobachtenden Bestreben, mehr zu haben als die anderen. Doch haben wir es offenbar mit zwei entgegengesetzten Kräften zu tun, deren jeweilige Stärke darüber entscheidet, ob die hervorgerufenen Spannungen eine Gesellschaft zerreißen oder nicht.
In jedem Fall ist es der soziale Vergleich zwischen "mir" und "dir" und "uns" und "denen", der diese beiden Kräfte nährt. Je ungünstiger er für die benachteiligte Seite ausfällt, desto stärker wird der Wunsch, auszugleichen, was als unfair, ja am Ende als schreiendes Unrecht empfunden wird. Solche Versuche haben auch gezeigt, dass die aufkochende Abneigung sich nicht nur gegen das Verhalten der Gruppe im Vorteil richtet, sondern schließlich auch ganz persönlich gegen die Mitglieder dieser Gruppe selbst. So wächst das emotionale wie soziale Kräftepotenzial, das sich am Ende auch gewaltig entladen kann, wenn die bindende Kraft in einer Gesellschaft - das Vertrauen - nicht mehr reicht.
Dass wir derzeit eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in vielen Ländern beobachten und zugleich einen erheblichen Verschleiß des Vertrauens in tragende gesellschaftliche Institutionen und auch zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft, sollte uns und nicht zuletzt unseren derzeit Verantwortlichen zu denken geben. Zwar sieht die ILO Deutschland noch auf der sonnigeren Seite Europas. Auf einer Insel aber leben wir deshalb nicht.
Literatur:
- Blake, P. R. & McAuliffe, K. 2011: ‘‘I had so much it didn't seem fair'': Eight-year-olds reject two forms of inequity. Cognition 120, 215-224
- Dawes, C. T., et al 2007: Egalitarian motives in humans. Nature 446, 794-796
- Fehr, E., et al. 2008: Egalitarianism in young children. Nature 454, 1079-1083
- Fliessbach, K. et al. 2007: Social Comparison Affects Reward-Related Brain Activity in the Human Ventral Striatum. Science 318, 1305-1308
- International Institute for Labour Studies 2011: World of Work Report 2011 - Making markets work for jobs. Genf: ILO Publications (online: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_166021.pdf)
- Mentzakis, E. & Moro, M. 2010: The poor, the rich and the happy: Exploring the link between income and subjective well-being. The Journal of Socio-Economics 38, 147-158
- Schmidt, M. F. H. & Sommerville, J. A. 2011: Fairness Expectations and Altruistic Sharing in 15-Month-Old Human Infants. PLoS ONE 6(10): e23223
- Tricomi, E. et al. 2010: Neural evidence for inequality-averse social Preferences. Nature 463, 1089-1092