Schon merkwürdig. Das halbe Land und ein bayerischer Ministerpräsident nehmen ihre Kanzlerin derzeit dafür ins Visier, dass sie in einer Krisensituation Zuversicht verbreitet. Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" - medienwirksam wiederholt am Mittwochabend bei ihrem Auftritt in der ARD-Sendung "Anne Will" - ist wie eine neue Grenze geworden, die durch dieses Deutschland im Flüchtlingsherbst 2015 verläuft; eine Grenze zwischen Gutgläubigen und Böswilligen, zwischen Zauderern und Zupackenden, zwischen Angst und Hoffnung.
Es ist, als ob es mittlerweile kein Dazwischen mehr gäbe. Nur Schwarz oder Weiß. Nur jämmerliches Scheitern oder glanzvolles Siegen. Nur ein "Wir schaffen das" oder ein "Wir schaffen das nicht". Das gilt für das Land. Und für seine Kanzlerin.
Merkel muss zuversichtlich bleiben
Das alles wirkt ein bisschen so, als könne man den Zustrom der Flüchtlinge abpfeifen, wie ein unglücklich verlaufenes Fußballspiel, damit man hinten nicht noch mehr kassiert. Nur – so ist es nicht, das hat die Kanzlerin bei Anne Will nochmal deutlich gesagt. Angela Merkel wird in die Pflicht genommen für die Lösung eines Flüchtlingsproblems, das Dimensionen angenommen hat, die noch vor Monaten jede Vorstellungskraft gesprengt hätten. Das ist richtig so. Eine Bundeskanzlerin kann sich nicht um die wichtigen Sachen kümmern – nur um die sehr wichtigen.
Es sieht so aus, als ob die Wanderungsbewegungen aus den Bürgerkriegs- und Elendsgebieten dieser Welt nach Europa gerade zum wichtigsten Problem Europas nach Ende des Zweiten Weltkriegs werden. Es ist daher einigermaßen absurd, von dieser Kanzlerin permanent ein Bekenntnis des inneren Zweifels zu verlangen. Jeder, der das tut oder danach sucht, verschwendet Zeit. Merkel muss allein schon deshalb daran glauben, dass "wir" das schaffen, weil diese Zuversicht eine conditio sine qua non ihrer Kanzlerschaft ist. Eine Regierung, die nicht mehr an Lösungen glaubt und dies auch öffentlich sagt, ist am Ende. Eine Regierung, die auf mittlere Sicht keine Lösungen parat hat aber auch.
Die Rolle einer Kanzlerin
Wer jetzt von Merkeldämmerung redet, verleiht denen unangemessen viel Gewicht, die besonders laut tönen, dass es bald nicht mehr zu schaffen ist. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer tut das quasi täglich. Das wirkt wie ein Dauerfeuer auf die Kanzlerin – und es ist bemerkenswert, wie gelangweilt Merkel Seehofers Kugeln an sich abprallen lässt, mit der Bemerkung, Seehofer habe in Bayern eine große Aufgabe zu bewältigen. Es ist das Wissen um Seehofers Rolle, um Seehofers Rollenprosa – und um ihre eigene.
Eine Kanzlerin, die am Zusammenhalt Europas interessiert ist und dabei eine tragende Rolle spielt, muss anders reden. Ihre Worte und ihre Taten müssen beispielgebend für die Europäische Gemeinschaft sein, orientiert sie sich in dieser europäischen Krisensituation zu kurzsichtig an aktuellen nationalen Interessen, dann kann sie den Laden gleich dicht machen. Das ist der Unterschied zu der Perspektive aus der bayerischen Provinz.
Zeit für europäische Lösungen
Merkels Willkommenskultur ist deshalb, ja, alternativlos. Es mag eine Gesellschaft an den Rand der Belastung bringen, aber jeder, der das so leichtfertig dahin sagt, möge bei sich überprüfen, wo diese Grenze für ihn denn gegenwärtig eigentlich genau liegt. Nur wer mehr als diffuse Ängste zu bieten hat, dass man nicht wisse, wie alles noch werden solle, kann ernst genommen werden.
Bis dahin erkauft sich Angela Merkel mit ihrem "Wir schaffen das" Zeit. Die wird noch dringend gebraucht, um nach europäischen Lösungen zu fahnden. Es wäre deshalb nicht nur fatal, wenn ausgerechnet die stärkste Frau Europas an diesem Problem scheitern sollte – es wäre auch absurd.