Die Proteste begannen kurz nachdem der Oberste US-Gerichtshof am 24. Juni sein Urteil verkündet hatte: das Recht auf Abtreibung war gefallen. Quer durch die Vereinigten Staaten gingen Tausende auf die Straße. Frauen und Männer, Schwarze, Weiße und Latinas, Menschen in Rollstühlen, alt und jung. Sie alle einte der Schock und die Wut über das Urteil – und eine Farbe.
Von Washington über Houston bis nach Los Angeles waren die Abtreibungsdemos in Grün gehüllt. Menschen trugen grüne Tücher um den Hals, hielten grüne Schilder mit der Aufschrift "We won't back down" in den Händen und waren teils wortwörtlich in grünen Pyrorauch gehüllt.
Für Frauen in Lateinamerika war es ein bekanntes Bild. Seit fast zwei Jahrzehnten gilt das grüne Halstuch dort als universelles Symbol für Abtreibungsrechte – geboren wurde die Idee dazu in Argentinien.
Grün als Protestfarbe in Argentinien geboren
Abtreibung war in dem südamerikanischen Land Anfang der 2000er verboten und selbst unter Feministinnen ein umstrittenes Thema. Inspiriert von den "Müttern des Platzes der Mairevolution" ("Madres de Plaza de Mayo") hatten zwei Frauen schließlich eine Idee. Jene Mütter und Großmütter, die in in den späten 1970ern begannen, vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires gegen das Verschwinden ihrer Töchter und Söhne während der Militärdiktatur zu demonstrieren, trugen weiße Kopftücher – als Zeichen des Protests.
Um mehr Aufmerksamkeit für Abtreibungsrechte zu schaffen, organisierte Marta Alanis, Gründerin der "Katholikinnen für das Recht zu Entscheiden", im Jahr 2003 ein nationales Frauentreffen – mit Bandanas (quadratischen Kopftüchern) für die Teilnehmerinnen. Gemeinsam mit ihrer Freundin Susana Chairotti entschied sie sich für Grün, die Farbe, die Natur, Wachstum und Leben repräsentiert, wie sie der "Washington Post" berichtete. Damit sollte auch der gegnerischen "Pro-Leben"-Bewegung die Stirn geboten werden, die den Begriff "Leben" für sich gekapert hatte.
Die Versammlung wurde ein voller Erfolg. Die grünen Halstücher waren das Titelbild in den lokalen Zeitungen. "Zum ersten Mal fordern Zehntausende Frauen die Entkriminalisierung von Abtreibung, das Recht auf Verhütung und zu entscheiden, wann und wie viele Kinder sie bekommen", berichtete die argentinische Zeitung "Pagina 12". Schnell verbreiteten sich die Bandanas im ganzen Land. 2015 waren sie Teil der landesweiten Demonstrationen gegen Femizide – die angesichts der hohen Rate an Frauenmorden aus dem Boden geschossen waren. Die Proteste unter dem Motto "Ni una menos" ("Nicht eine weniger") wuchsen zu einer Bewegung, die den gesamten Kontinent erfasste (der stern berichtete).
Für einige ist es zum Heulen, andere lassen die Korken knallen: So reagierten die US-Bürger auf das Urteil des Supreme Courts

Abtreibungsrecht in Grün: Von Lateinamerika bis in die USA
Im Jahr 2018 hatte sich das grüne Halstuch endgültig auf den Straßen etabliert. Argentinien stand kurz davor das Recht auf Abtreibung zu legalisieren, das Gesetz kippte im letzten Moment – aber das Momentum der Bewegung war gekommen. In diesem Jahr gab es Alanis zufolge landesweit keinen grünen Stoff mehr zu kaufen. Zwei Jahre später war es dann soweit: Im Dezember 2020 legalisierte Argentinien als erstes großes Land in Lateinamerika das Recht auf Abtreibung.
Angefacht durch den Sieg in Argentinien verbreitete sich das grüne Halstuch von dort aus über den ganzen Kontinent. Plötzlich tauchten die Bandanas auf Demonstrationen in Chile, Peru und Kolumbien auf. Aktivist:innen brachten den Kampf für Abtreibungsrechte auf die Straße – und in die Gerichte. Im September 2021 stimmte der Oberste Gerichtshof in Mexiko dafür, Abtreibungen zu entkriminalisieren. Im Februar diesen Jahres folgte Kolumbiens Verfassungsgericht. Damit sind Schwangerschaftsabbrüche nun in den drei größten Ländern Lateinamerikas legal.
Viele der Frauen, die so lange für ihre Rechte gekämpft und die Vereinigten Staaten dabei stets als Vorbild gesehen hatten, traf das Supreme-Court-Urteil am 24. Juni wie ein Schlag. Ausgerechnet das Land der unbegrenzten Möglichkeiten drehte die Uhren zurück – und stellt sich damit in eine Reihe mit Polen und Nicaragua, die den Zugang zu Abtreibungen ebenfalls verschärft hatten.
Grüne Welle erreicht den Supreme Court
So groß der internationale Schock über das Urteil auch war, umso größer war in Lateinamerika das Solidaritätsgefühl über die aufblühenden Proteste. Für die Aktivist:innen, die jahrzehntelang in ihren Ländern für Abtreibungsrechte auf die Straße gegangen waren, war es schlicht ergreifend zu sehen, wie viele der Menschen vor dem Supreme Court grüne Halstücher trugen. "Es ist eine große Ehre, persönlich und für das Kollektiv, dass das Grün jetzt in den Vereinigten Staaten aufgegriffen wird", sagte Alanis der französischen Zeitung "Le Monde".
Ähnlich sieht es Catalina Martínez Coral, Regionalleiterin des "Zentrums für Reproduktive Rechte" – eine der Gruppen, die das Recht auf Abtreibung vor dem kolumbianischen Verfassungsgericht erkämpft hat. "Die Vereinigten Staaten haben selten nach Süden geschaut und sich gefragt, was sie von uns lernen können", formuliert sie es gegenüber der "Washington Post". Vielleicht, so Martínez Coral, sei es nun an der Zeit. "Wir sind Teil derselben Bewegung."
Fest steht, die grüne Welle hat die USA endgültig erreicht. Wie viel sie an Stärke gewinnen kann, bleibt abzuwarten.
Quellen: "NPR", "Washington Post", "Le Monde", mit Reuters-Material