Ach, Europa Ohne Fahrschein in die Zukunft

  • von Tilman Müller
Seit zehn Jahren schon düst der moderne Thalys von Köln nach Paris, mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 300 Stundenkilometern. Von Brüssel in Richtung Aachen ist aber Schleichspur angesagt - dank EU-Bürokratie. Dennoch wird das Jubiläum gefeiert, mit Tickets für zehn Euro.

Schon der Name ist einzigartig: Thalys - ein von Marketing-Experten entwickeltes Kunstwort, das in keine Sprache übersetzbar ist, aber im multilingualen Euroland überall gleichermaßen gut auszusprechen ist, dazu positive Assoziationen weckt, im Deutschen etwa an den glücksbringenden Talisman. Vor genau zehn Jahren fuhr der Hochgeschwindigkeitszug, der auf der Technik des französischen TGV basiert, erstmals von Köln nach Paris. Immerhin 8,5 Millionen Menschen waren seither auf den Thalys-Strecken unterwegs.

Auch die Deutsche Bahn ist beteiligt

Anfangs benutzten hauptsächlich Belgier und Franzosen den 300 Stundenkilometern schnellen Zug. Doch heute ist der Thalys vor allem ein europäischer Zug, an dem neben der französischen SNCF und der belgischen SNCB inzwischen auch die Deutsche Bahn beteiligt ist. Die Passagiere kommen von überall her.

Wohin steuert XXL-Europa?

Und worüber wird in der Hauptstadt Brüssel gerade gestritten? stern-Korrespondent Tilman Müller schreibt über Macht und Malaisen unseres Kontinents – in seiner Kolumne "Ach, Europa", exklusiv alle zwei Wochen auf stern.de.

"Wir sind ein Motor für Europa", sagt stolz Thalys-Direktor Jean-Michel Dancoisne, und in der Tat herrscht an Bord des Schienenfliegers nicht nur Sprachengewirr, sondern unverkennbar auch ein Multikulti-Feeling. Geschäftleute und Eurokraten sitzen in den Abteilen, Künstler oder Partygänger, die sich nachts in Amsterdam oder Paris vergnügen und am nächsten Morgen zurückfahren - von Innenstadt zu Innenstadt, schnell, modern, praktisch und ökologisch vollkommen unbedenklich.

Ein Vier-Sterne-Hotel auf Schienen

Wenn der Schaffner mit seinem kleinen elektronischen Kontrollgerät kommt, zücken viele Fahrgäste lässig ihre "Cybelys"-Card - eine Karte, über die man die Strecken per Telefon oder im Internet buchen kann, ohne einen Fahrschein lösen zu müssen. Und ab nächstem Jahr sind die Züge für die vielen Laptop-Benutzer gar WLAN ausgerüstet, mit "Wifi", wie man in Frankreich sagt.

Sie sei eine "echte Thalyssin" geworden, sagt die flippige Bestseller-Autorin Amélie Nothomb, eine belgische Diplomatentochter, die unter anderem in Japan aufwuchs und heute in Paris lebt. "Wie in einem Vier-Sterne-Hotel" fühle sie sich auf ihren vielen Blitzreisen zwischen Brüssel und Paris, sagt die Vielschreiberin, die pro Jahr im Schnitt drei bis vier Romane zu Papier bringt. Im Thalys dahinrauschend kann Nothomb besonders gut schreiben. Dabei sitzt sie noch nicht mal vor einem aufgeklappten Laptop im Abteil wie die vielen Geschäftsleute, sondern kritzelt ihre oft bitterbösen Phantasien noch auf lumpiges Papier.

Höchstgeschwindigkeit gibt es nur zwischen Paris und Brüssel

So richtig zügig und dazu noch im 30-Minuten-Takt verkehrt der Hochgeschwindige bisher freilich nur zwischen Paris und Brüssel. Um die 300 Kilometer schnell saust er durch flaches Land, nonstop in etwa 80 Minuten. Morgens kriegt man zwischen den beiden Hauptstädten kaum die Zeitungen gelesen, in der Steh-Bar werden die Reisenden manchmal durchgeschüttelt wie im Flieger bei Turbulenzen. Und etwa auf halber Strecke stellen sich schon mal Hochgefühle ein, wenn der Thalys minutenlang wie auf einer überirdischen Überholspur parallel zur Autobahn A 1 davon rast, wohingegen all die BMWs und Peugeots sich lächerlich lahm fortbewegen.

Im Geschwindigkeitsrausch stimmt so mancher Thalys-Fan das hohe Lied auf Europas angeblich so überragende Zukunft an. Vom Niedergang des Dollar ist dann schnell die Rede. Und vom vergleichsweise langsamen amerikanischen "Metroliner", der für die Strecke zwischen Washington und New York doppelt so lang braucht wie der Thalys auf der kilometermäßig kaum kürzeren Distanz zwischen Paris und Brüssel.

"Geburtstagstickets" für zehn Euro

Doch sobald der Thalys den Brüsseler "Midi"-Bahnhof in Richtung Aachen und Köln verlässt, beginnt wieder die Entdeckung der Langsamkeit. Zwar ist hier eine neue Trasse, welche die Fahrzeit um 45 Minuten verkürzen würde, fast fertig. Doch EU-Bürokraten bestehen darauf, dass diese Strecke noch mit einem neuen europäischen Signalsystem namens ETCS ausgestattet wird, das aber im Moment noch gar nicht verfügbar ist. Also muss der schnelle Thalys vorerst weiter auf der alten Schleichspur zuckeln.

Bleibt also noch viel Zeit für Zukunftsträume von einem Europa, in dem es unionsweit schnelle und grenzüberschreitende Bahnverbindungen gibt. Zwischen Warschau und Berlin, Lyon und Turin oder eines Tages vielleicht sogar zwischen Istanbul und München. Das wäre eine echte Alternative zu all dem Stress und der Umweltbelastung, die durch die derzeitige Vielfliegerei verursacht wird. Einstweilen bietet Thalys noch bis zum 29. November vergünstigte "Geburtstagstickets" zwischen Köln und Paris für zehn Euro an. Das Angebot (www.thalys.com) gilt für einfache Fahrten in der zweiten Klasse zwischen dem 15. Dezember und dem 29. Februar 2008.