US-Präsident Joe Biden hat nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban in Afghanistan den US-Truppenabzug aus dem Land verteidigt. "Ich stehe aufrecht hinter meiner Entscheidung", sagte Biden am Montag in einer Fernsehansprache im Weißen Haus. "Amerikanische Soldaten können und sollten nicht in einem Krieg kämpfen und sterben, den die afghanischen Streitkräfte selbst nicht kämpfen wollen."
Er sei "zutiefst traurig" über die Entwicklung in Afghanistan, "aber ich bedaure meine Entscheidung nicht", sagte der wegen der Rückkehr der Taliban an die Macht in die Kritik geratene US-Präsident. Es sei nie das Ziel der USA gewesen, Afghanistan in eine "vereinte zentralisierte Demokratie" zu verwandeln. Ziel sei es vielmehr gewesen, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 neue Attacken auf die USA zu verhindern.
Biden räumt Überraschung von Taliban-Vormarsch ein
Die USA seien weiterhin in der Lage, in Afghanistan gegen terroristische Gruppen vorzugehen, sollte dies notwendig sein, betonte Biden. Er drohte den Taliban zudem eine "vernichtende" Antwort an, sollten sie die Evakuierung von US-Bürgern aus der Hauptstadt Kabul behindern. "Wir werden unsere Leute mit vernichtender Gewalt verteidigen, falls nötig", versicherte er.
Die Taliban hatten am Sonntag Kabul erobert und damit die Macht im ganzen Land übernommen. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani war wenige Stunden zuvor ins Ausland geflohen.
Biden räumte nun ein, vom schnellen Vormarsch der Islamisten überrascht worden zu sein. "Die Wahrheit ist, dass sich das schneller entwickelt hat, als wir vorhergesehen haben." Verantwortlich dafür seien aber die afghanische Regierung und die afghanischen Sicherheitskräfte: "Afghanische politische Anführer haben aufgegeben und sind aus dem Land geflohen. Das afghanische Militär ist in sich zusammengefallen, manchmal ohne auch nur zu versuchen zu kämpfen."
Als Kabul in die Hände der Taliban fiel – die Machtergreifung in Bildern

Internationale Sorge nach Taliban-Machtergreifung
Biden verwies in seiner Rede auf die langjährige US-Unterstützung für die afghanischen Streitkräfte mit Training und Ausrüstung. "Wir haben ihnen alle Möglichkeiten gegeben, über ihre eigene Zukunft zu entscheiden. Wir konnten ihnen aber nicht den Willen geben, für diese Zukunft zu kämpfen." Die Entwicklung der vergangenen Tage bestärke ihn in seiner Auffassung, dass der von ihm angeordnete US-Abzug richtig sei, sagte Biden.
Der Präsident hatte im April einen vollständigen Truppenabzug aus Afghanistan bis spätestens zum 11. September angeordnet. Die USA waren nach den Terroranschlägen des Jahres 2001 in Afghanistan einmarschiert und hatten die Taliban, die dem Terrornetzwerk Al-Kaida Unterschlupf gewährt hatten, von der Macht vertrieben.
Die Rückkehr der Islamisten an die Macht sorgte jetzt international für Entsetzen und weckte große Besorgnis unter anderem um die Frauen in dem Land. Die Taliban wollen eine sehr strikte Auslegung des islamischen Rechts durchsetzen.
Die Taliban hatten in den vergangenen Wochen nach dem Abzug der ausländischen Truppen in rasantem Tempo praktisch alle Provinzhauptstädte des Landes eingenommen – viele kampflos. Am Sonntag rückten sie auch in Kabul ein. Kämpfe gab es keine. Der blitzartige Vormarsch überraschte viele Beobachter, Experten und auch die US-Regierung.

US-Präsident kritisiert mangelnden Kampfeswillen der Sicherheitskräfte
Auf dem Papier waren die Taliban den afghanischen Streitkräften unterlegen. Rund 300.000 Mann bei Polizei und Armee standen Schätzungen zufolge rund 60.000 schlechter ausgerüsteten Taliban-Kämpfern gegenüber. Diese profitieren aber von ihrem brutalen Ruf, den sie während ihrer Herrschaft in den 90er-Jahren mit öffentlichen Exekutionen oder Auspeitschungen erlangt haben.
Biden sagte, das afghanische Militär sei kollabiert, "zum Teil ohne den Versuch zu kämpfen". Die USA hätten die afghanischen Sicherheitskräfte ausgebildet und ausgerüstet. Die Vereinigten Staaten hätten ihnen aber nicht den Willen geben können, für ihre Zukunft zu kämpfen. Bereits in der vergangenen Woche hatte Biden mangelnden Kampfeswillen der afghanischen Sicherheitskräfte beklagt.