AFGHANISTAN Wir wollen zurück nach Kabul

101 Tage waren die deutschen Helfer von Shelter Now Gefangene der Taliban. Nach einer kurzen Pressekonferenz sprachen sie ausführlich mit dem stern. Aus stern Nr. 48/2001.

Es gab Momente, die waren nicht auszuhalten. Da dachten sie, es gehe nicht mehr. Etwa, als Heather Mercer, 24, eine der beiden Amerikanerinnen in ihrer Gruppe, ein Wurm aus dem Mund kroch. Wahrscheinlich eine Made aus dem Essen. Aber so was ging vorüber. Was blieb, war die Angst. 101 Tage und Nächte lang Angst, mal mehr, wenn die Ungewissheit unerträglich wurde, mal weniger, wenn sie sich mit Gebeten Mut machten.

Jetzt sitzt Georg Taubmann, 45, der Leiter von »Shelter Now Germany«, im Garten der deutschen Botschaft in Islamabad und erzählt und lacht sogar und begreift erst allmählich, dass er frei ist. Frei, zu gehen, wohin er will, nach diesen dreieinhalb Monaten, in denen er und seine sieben Mitarbeiter eingesperrt waren.

»Oha, die wollen uns holen«

Vor zehn Tagen noch hatte er das Ende befürchtet. Wächter hatten Taubmann zum Gefängnisdirektor gebracht. Draußen hörte man Bomben einschlagen, das Gebäude bebte. Am Schreibtisch des Direktors saß ein fetter, bärtiger Mullah und sagte, er sei aus Kandahar, der Hochburg der Taliban. »Oha, habe ich da nur gedacht, oha, die wollen uns holen«, erinnert sich Taubmann.

Höflich ist er geblieben, wie immer, hat Tee mitgetrunken, sich mustern lassen als Kafir, als Ungläubigen. Gezittert hat er. Dann wurde er wieder in die Zelle geschickt. Er erwartete das Schlimmste - bis er erfuhr, dass der bärtige Mann der Energie-Minister der Taliban war, der einfach nur mal die exotischen Gefangenen sehen wollte. Also aufatmen, also weiterbangen.

Am 5. August hatte sie begonnen, die Angst. Taubmanns Mitarbeiterin Silke Dürrkopf, 36, war gerade von einem Heimaturlaub aus Hildesheim nach Kabul zurückgekehrt. Sie war krank. Nur bekleidet mit T-Shirt und Shorts lag sie im Bett, als sie plötzlich unten im Haus laute Männerstimmen hörte. Kaum hatte sie das traditionelle lange Hemd mit Pluderhose angezogen, stürmten zehn Taliban mit Kalaschnikows ins Zimmer. Mit ihrer Kollegin Kati Jelinek, 29, wurde Silke Dürrkopf ins Gefängnis gefahren. Dort waren schon die sechs anderen Helfer und Helferinnen von »Shelter Now«. Eine von ihnen, Margrit Stebner, 43, hatte sich auf einen Stuhl setzen müssen. Dann schossen die Taliban - 50 Zentimeter an ihrem Kopf vorbei.

»Es war wie im Mittelalter«

Männer und Frauen wurden in verschiedene Gefängnisse gebracht. Taubmann war schockiert, als er in die Zellen der Geheimpolizei geführt wurde. Diebe warteten dort auf Amputationen, einige Gefangene hatten Geschwüre an den Füßen von den schweren Eisenketten, andere waren verwirrt von Folter und Angst. »Es war wie im Mittelalter.« Die Frauen mussten sich die ersten drei Wochen die Toilette mit 40 afghanischen Frauen teilen. Viele hatten Ruhr. Einige waren eingesperrt worden, weil sie es gewagt hatten zu arbeiten.

»Eigentlich war es ein großes Durcheinander«

Die Verhöre begannen. Sieben Stunden, neun Stunden lang. »Eigentlich war es ein großes Durcheinander in dem die Fragen

und Antworten hin- und herübersetzt und aufgeschrieben wurden», sagt Silke Dürrkopf. Manchmal vergingen sieben Stunden für gerade fünf Fragen. Immer wieder: Hatten sie für die Straßenkinder eine Religionsschule eingerichtet? Worüber hatten sie mit Afghanen geredet? Warum halfen sie, wenn sie nicht bekehren wollten?

Taubmann ist immer noch wütend, wenn er an die angeblichen Beweise denkt, die im Fernsehen vorgeführt wurden. »Diese grünen Flugblätter habe ich nie gesehen, Tausende von Bibeln haben wir nie gehabt.« Anlass für die Verhaftungen war ein Video, das die beiden Amerikanerinnen Heather Mercer und Dayna Curry einer afghanischen Familie gezeigt hatten. Und ein Buch, in dem Geschichten von Jesus erzählt werden. »Heather und Dayna sind sicher zu weit gegangen«, sagt Margrit Stebner. Aber, und dieses Aber ist wichtig für die »Shelter Now«-Mitarbeiter, das war noch lange keine Missionsarbeit.

Suchten die Taliban nur einen Vorwand?

Taubmann hat 17 Jahre in Pakistan gelebt, bevor er nach Kabul ging. Er spricht Paschtun und hatte Kontakte bis in die höchsten Ebenen der Taliban. In einem Land, in dem Religion alles ist, gibt es kaum ein Gespräch mit Ausländern, das sich nicht auch um Glaubensfragen dreht. Taubmann vermutet, dass die Taliban nur einen Vorwand suchten, um die Organisation zu plündern. Einen Tag nach der Verhaftung wurden die Projekteinrichtungen von »Shelter Now« ausgeraubt. Fahrzeuge, Funkgeräte, Werkzeuge, Computer, Büromöbel, der Safe mit mehreren hunderttausend Dollar - alles weg.

»Die Taliban wollten uns vernichten«

Auch die Privathäuser der Helfer wurden leer geräumt. »Ich besitze noch nicht mal mehr einen Löffel«, sagt Taubmann. Die Spielsachen seiner Kinder, ihre selbst gebastelten Geschenke, Fotos von seiner Hochzeit, von der Geburt seiner Söhne, Möbel und Kleider sind weg. »Die Taliban wollten uns vernichten und damit alle internationalen Helfer vertreiben, und dafür brauchten sie einen Vorwand.«

»Shelter Now« hatte Werkstätten für Straßenkinder eingerichtet, eine Tischlerei war darunter. Der Tischler dort hatte erst seit zwei Tagen gearbeitet, als er verhaftet wurde. Mit 15 weiteren afghanischen Mitarbeitern blieb er in Haft, bis die Nord-Allianz Kabul einnahm. Jetzt sind alle in Sicherheit. Auch die 70 Straßenkinder, die verhaftet und wahrscheinlich in einem Taliban-Umerziehungslager geschlagen wurden.

Ein wenig Spaß half gegen die Angst

Nach drei Wochen Haft trafen sich die Frauen und Männer das erste Mal für wenige Minuten. Sie wurden verlegt in Gefängnisse mit einem gnädigeren Direktor. Nun lebten die sechs Frauen in einem Zimmer. Sie schliefen gemeinsam, standen gemeinsam auf, aßen gemeinsam, machten morgens und abends Gruppenbesprechung. »Wir haben viel geübt, wie man sich gegenseitig verzeiht«, sagt Heather Mercer. Die Frauen beteten, sangen, machten Gymnastik und organisierten sogar Spieleabende - »mit Pantomime und Spielen, die wir noch so im Kopf hatten«, sagt Margrit Stebner. Ein wenig Spaß half gegen die Angst. Manchmal durften sie die Männer für eine Stunde am Tag sehen.

Lange Wochen erhielten die Deutschen gar keine Briefe, die Amerikaner und Australier jedoch regelmäßig. Margrit Stebner wurde eines Tages nur ein leerer Briefumschlag mit ihrem Namen vor die Nase gehalten. Silke Dürrkopf bekam acht Wochen keinerlei Nachricht von ihren Verwandten, und als sie darüber verzweifelte und weinend auf den Treppen vor ihrer Zelle saß, erbarmte sich ein Mitarbeiter des Taliban-Außenministeriums und brachte ein Satellitentelefon - der erste direkte Kontakt nach Hause.

»Zoobesuche« in Begleitung von obskuren Männern

Die »Zoobesuche« begannen. Jeden Abend erschienen Mitarbeiter des Außenministeriums in Begleitung von obskuren Männern und verlangten von den Frauen, sich vor der Zelle aufzustellen. Sie schauten sie an, vom Schal bis zu den Füßen. Dann durften die Frauen wieder gehen. Nie fasste sie einer an. Bei der Verhaftung musste Kati Jelinek, umgeben von fünf Männern mit Kalaschnikows, ihre Unterwäsche einpacken. Das war das Äußerste an Bedrängnis. Andere Wächter nannten sie »Schwestern« und verpflichteten sich damit, sie zu beschützen wie Familienmitglieder.

Von den Anschlägen des 11. September erfuhren die Gefangenen wenig. »Es hieß immer, kein Problem, kein Problem«, sagt Silke Dürrkopf. Bilder haben sie bis heute nicht gesehen vom brennenden World Trade Center. Georg Taubmann sprach viel mit seinen Mitgefangenen, half ihnen mit Medikamenten. Einer von ihnen wurde für ihn und die Frauen zur Informationsquelle - Mohammed Hashim, dessen Vater in Deutschland Medizin studiert hatte. Er saß in Haft, weil er Enkel eines Stammesführers ist, der die Nord-Allianz unterstützt.

100 Schläge mit einem Elektrokabel

Hashim hatte »100 Kabel« bekommen, 100 Schläge mit einem Elektrokabel, und Taubmann kümmerte sich um seine Verletzungen. Hashim hatte Einfluss, weil seine Familie Einfluss hatte. Er ging ein und aus im Büro des Direktors - und hörte so nebenbei BBC-Nachrichten, die er an Taubmann weitergab. Er schmuggelte ein Radio in die Zelle und Briefe hinaus. Und als er drei Wochen vor der Befreiung Kabuls von den Taliban entlassen wurde, blieb er auf Bitten seines Großvaters im Gefängnis, um sicherzustellen, dass die Fremden weiter gut behandelt würden.

Mit Beginn des Krieges wurde die Situation angespannter. Die Männer durften die Frauen nicht mehr sehen. Taubmann dachte, das Schlimmste, was jetzt passieren könnte, wäre die Entführung nach Kandahar. »Das wäre unser Ende gewesen.« Am Dienstag vergangener Woche kamen die Taliban im Dunkeln, wie schon öfter. Sie drängten die Ausländer hinaus, schnell, schnell. Nein, sie bräuchten nichts mitzunehmen. Die Gruppe wurde in einen Transporter geschoben, saß auf Granatwerfern. Der Wagen fuhr auf die Straße Richtung Kandahar. Die acht beteten.

Sie wagten kaum zu atmen

Mitten in der Nacht hielt das Auto. Gewehre überall, der Kommandant schob sie in einen Stahlcontainer am Rande der Straße. Es war eisig kalt. Sie hatten nur wenige Decken, zitterten und beteten und hatten Angst wie nie zuvor. Im Morgengrauen öffnete sich die Tür. Wieder wurden sie hineingedrängt in den Transporter. Jetzt fuhren sie nach Ghazni.

Das Gefängnis dort war das Schlimmste von allen. Verstopfte Toiletten, verdreckte Böden, bröckelnde Wände, zum Trinken nur Dreckwasser aus dem Hahn. »Hier wären einige von uns ernsthaft krank geworden«, sagt Taubmann. Draußen in der Stadt hörten sie Kampflärm. Nicht nur Gewehre, auch Granaten und Mörser. Nach zwei Stunden war es ruhig. Sie wagten kaum zu atmen.

Sie kamen um zu töten, ganz sicher

Dann brach plötzlich die Hölle los. Männer traten die Türen der Zellen ein. Das mussten die Taliban sein. Sie kamen, um zu töten, ganz sicher. Noch zwei Türen, noch eine Tür. Krachend brach das Holz, dann der Schrei: »Assad« - »Freiheit«. Der Mann mit der Kalaschnikow und dem Munitionsgurt blieb verdutzt stehen. Ausländer, das hatte er nicht erwartet. Er war ein Soldat der Nord-Allianz.

Die »Shelter Now«-Gruppe wurde durch die befreite Stadt geführt, die Menschen sangen, Frauen legten die Burkas ab. »Es war wunderbar«, sagt Taubmann. Über das Rote Kreuz wurden die westlichen Botschaften informiert. Verhandlungen begannen mit den Kommandanten. Dann wurden sie trotz Ausgangssperre in die Stadt geführt. Die amerikanischen Helikopter sollten kommen.

Doch die kleine Lampe, die sie dabeihatten, war zu schwach, um den Hubschraubern den Weg zu weisen. Heather Mercer

steckte ihren Schal in Brand. Mit den Kopfbedeckungen der anderen Frauen entfachten sie ein Feuer, mitten in Ghazni, in dem weiter Schüsse hallten. Die Hubschrauber fanden sie, kurz bevor das Feuer erlosch.

Wieder bei null anfangen

Georg Taubmann will mit seiner Familie zurück nach Afghanistan. Bei null müssen sie anfangen, aber Hunderttausende Flüchtlinge warten. »Wenn ich in Kabul freigelassen worden wäre, wäre ich gleich dageblieben«, sagt er. Auch die Frauen wollen weiterarbeiten. Kati Jelinek träumt von einer richtigen Schule für ihre Straßenkinder, einer Schule, in der auch die Mädchen lesen und schreiben lernen: »Stellen Sie sich die Gesichter der Mädchen vor! Stellen Sie sich vor, was jetzt alles möglich ist. Es wäre dumm, nicht zurückzugehen.«

Cornelia Fuchs