Es ist erstaunlich, wie viele Besucher aus aller Welt den Weg in das 900-Seelen-Städtchen Wigtown finden. Mit dem Zug kommt man nicht weiter als nach Dumfries, etwas südlich von Glasgow. Statt der Dramatik der Highlands bietet die Region Galloway, dieses Ostfriesland der Schotten, schwarz-weiße Kühe und Lämmer. Hinter Wigtown kommt nur noch die Fähre nach Nordirland.
Doch in Wigtown trifft sich die Welt. An der Wand des Buchladens "The Open Book" hängt eine Weltkarte, auf der die Gäste den Ort ihrer Herkunft mit einem lila Punkt kennzeichnen können. An der Ostküste der USA zwischen Philadelphia im Süden und Boston im Norden wimmelt es nur so von lila Punkten, doch auch aus anderen Teilen der Vereinigten Staaten sowie aus Kanada, Australien und Neuseeland haben schon viele hierher gefunden. Aus Europa kommen viele Besucher, auch aus Marokko war schon jemand hier, aus Riyadh in Saudi-Arabien, aus China und Südkorea.
Was all diese Menschen nach Wigtown zieht, ist ein exzentrischer Wunschtraum: einmal im Leben in einem verregneten schottischen Kaff am Ende der Welt in einem Buchladen zu arbeiten. Und das noch dazu in den Ferien.

Das kleine Wigtown hat 15 Buchläden
Das "Open Book", ein Buchladen mit einer Ferienwohnung im ersten Stock, gehört auch zehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen bei Airbnb zu den beliebtesten Erlebnis-Urlauben auf der Plattform. Der Betreiber, die Organisation "Wigtown Book Festival", musste Airbnb vor acht Jahren bitten, den Buchungs-Kalender von zwei auf drei Jahre zu erweitern, so groß war das Interesse und so lang die Warteliste.
Dabei ist Wigtown weder außerordentlich malerisch noch mit vielen Touristenattraktionen gesegnet, von den 15 Buchläden des Ortes mal abgesehen. Vor 30 Jahren noch galt der Ort sogar als einer der ärmsten in Schottland, nachdem zuerst die ansässige Großmolkerei wegzog und dann auch noch die Whiskybrennerei pleite ging.
"150 Menschen verloren damals fast über Nacht ihre Arbeit", erzählt Anne Barclay. Die Organisatorin des "Wigtown Book Festival" ist in der Stadt geboren. Mit Schaudern erinnert sich die junge Frau an ihren Schulweg, der damals an vernagelten Geschäften vorbei führte. "Viele Familien mussten die Region verlassen, auch Schulfreunde von mir."

Mit dem Titel "Bücherstadt" kam der Umschwung
1997 suchte die schottische Regierung Anwärter für den Status "Schottlands Buchstadt". An den Titel geknüpft waren Fördermittel in Millionenhöhe. Wigtown erfüllte alle Kriterien: eine landschaftlich reizvolle Umgebung, große wirtschaftliche Probleme, "und mit damals 87 leerstehenden Immobilien hatten wir hier mehr als Platz genug, Buchläden unterzubringen", erzählt Anne.
Mit dem Titel und den Investitionen kam für Wigtown der Umschwung. Neue Buchhändler zogen her, alte Wigtowner kehrten zurück.
Eine von ihnen war Joyce Cochrane. Mit 18 war sie aus der Kleinstadt weggezogen, die sie in den Achtzigerjahren als engstirnig und rassistisch empfunden hatte. Sie studierte in Edinburgh Fremdsprachen und lebte eine Zeitlang in Frankreich, bevor sie ihren Mann Ian kennenlernte, einen Südengländer, der lange für die UN gearbeitet hatte.
"Wir sind Internationalisten", sagt Joyce. Vor ihrem Buchladen "The Old Bank Bookshop" flattert neben der UN- auch eine große EU-Flagge. "Aus Prinzip", sagt ihr Mann Ian. Wie viele in Schottland verabscheuen die beiden den Brexit.

Die Bibliothekarin Joyce kannte sich aus mit Büchern. Das Paar übernahm das leerstehende ehemalige Bankgebäude und füllte es bis unter die hohen Decken mit vor allem antiquarischen Büchern und Musiknoten.
Eine Rom-Com wie aus "Notting Hill"
Joyce gehört zu den vielen Volontären, die das "Open Book" möglich machen. Sie ist das erste freundliche Gesicht, das "Open Booker" – so nennen sie hier die Airbnb-Gäste – sehen, wenn sie in Wigtown ankommen. "Der Bücherstadt-Status rettete Wigtown", sagt sie, "aber das 'Open Book' brachte die ganze Welt zu uns." Joyce zeigt den Gästen die Wohnung über dem Laden, erklärt, wie der Laden funktioniert, übergibt Schlüssel und Kasse. "Öffnen Sie, so lange oder kurz Sie wollen. Sie haben schließlich Urlaub!"
Die Idee zu dem Laden hatte vor einem Jahrzehnt, und das ist der Hollywood-reife Teil der Geschichte, eine Amerikanerin. Jessica Fox arbeitete mit 26 Jahren in Kalifornien bei der NASA in der Kommunikation. "Ja, mein Karriere-Höhepunkt kam früh!", sagt sie und muss darüber kurz lachen. Dem Burnout nahe und besessen von der offenbar nicht so ungewöhnlichen Fantasie, in einem muffigen Antiquariat irgendwo im feuchtkalten Schottland zu arbeiten, fand sie vor gut 15 Jahren den Laden von Shaun Bythells, der schlicht "The Bookshop" heißt und eine Sehenswürdigkeit von Wigtown ist.
"Lasst uns ein Airbnb daraus machen!"
Jessica verliebte sich in den schrulligen Shaun, so wie damals in der Rom-Com "Notting Hill" Julia Roberts' Figur dem Charme von Hugh Grants Buchhändler erlag. Doch vor allem verliebte sich Jessica in Wigtown.

Eines späten Abends saßen die beiden mit Freunden in Shauns Wohnung über seinem Buchladen, wie so oft floss dabei reichlich Rotwein. Sie redeten über einen Buchladen in Wigtown, dessen Besitzer einen Nachfolger suchte. "Lasst uns ein Airbnb daraus machen!", schlug Jessica vor. Es müsse doch mehr Amerikaner wie sie geben, die in Schottland Buchhändler spielen wollen.
"Ich dachte, sie war verrückt geworden", sagte Anne.
Freiwillige konvertierten die obere Etage in eine hübsche Zwei-Zimmer-Wohnung, die Organisation "Wigtown Book Festival" wurde Ladenmieter und verwaltet die Immobilie; alle Einkünfte – inzwischen immerhin 12.000 Euro pro Jahr – kommen Wigtowns Buchfestival zugute.

Anfangs war das "Open Book" Künstlerresidenz für Autoren, Maler, Musiker. Zu den ersten Bewohnern gehörten Beth und Ben von der "Bookshop Band". Die beiden leben nun in Wigtown, vergangenes Jahr produzierten sie ein Album mit Pete Townsend von der legendären Band "The Who".
Heute schauen sie mit ihrer kleinen Tochter im "Open Book" vorbei, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Bald kommt Nanette dazu, eine reizende alte Dame und Freiwillige der ersten Stunde. Sie bringt selbstgebackenes Shortbread vorbei.

Viele ehemalige "Open Booker" bleiben Wigtown treu
Viele Airbnb-Gäste kommen wieder und wieder; eine "Open Bookerin" inspirierte die Erfahrung sogar zur Gründung ihres eigenen Buchladens im kanadischen British Columbia. Andere reisen Tausende Kilometer an, um beim alljährlichen Buchfestival im Herbst als Freiwillige zu helfen.
Anne ist gerührt von der Großzügigkeit vieler Gäste. "Einmal kam eine Frau zu mir mit Ideen zur Verbesserung des Buchladens", erzählt sie. Während die Frau redete, addierte Anne im Kopf besorgt die Kosten. "Sie hatte ja recht. Aber wir waren in dem Jahr sehr knapp bei Kasse." Am Ende sagte die Frau: "Schick mir die Rechnung. Ich bezahle Euch das."
Mit dem Liebesglück von Jessica und Shaun ist es inzwischen vorbei, doch sie blieben gute Freunde. Beide haben Bücher geschrieben, Shauns wurden zu Bestsellern. Jessica hat heute ihre eigene Produktionsfirma in Galloway und produzierte bereits einen Film, den Amazon Prime kaufte.
Zu ihren nächsten Projekten gehört ein Film über Wigtown und das "Open Book". Hoffentlich kommen darin auch Joyce, Anne, Nanette und all die anderen Bewohner von Wigtown vor, die das Städtchen zu dem machen, was es ist: ein kleines, feines Wunder.
Das Wigtown Book Festival läuft vom 27.9. – 6.10. 2024: www.wigtownbookfestival.com