Oded Bahar blieben nur wenige Sekunden. Der 69-jährige Israeli lebt im Kibbutz Nir Yitzhak, nur knapp drei Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Von dort bis zu seinem Haus brauchen die Raketen nie mehr als ein paar Augenblicke.
Als Bahar am Samstagmorgen den Alarm hörte, flüchtete er mit Ofra, die er die Frau seines Lebens nennt, in den hauseigenen Schutzraum. Zehn Stunden später schrieb er dem stern: "Wir sind noch immer im Schutzraum. Ich weiß nicht, was draußen vor sich geht." Er hörte Einschläge, er hörte Schüsse. Wie jeder Israeli in seinem Alter erinnert Bahar sich an viele Kriege. Er schrieb: "Dieser Tag erinnert mich daran, wie sich Todesangst anfühlt."
Nurit Rosenfeld war erst um vier Uhr morgens ins Bett gegangen, an Freitagen steht sie oft bis nachts in der Küche, um das Essen für den Schabbat vorzubereiten. Um 6.30 Uhr riss der Raketenalarm sie aus dem Schlaf. Neun Stunden später schrieb sie dem stern: "Wir sind noch immer verwirrt. Ich denke an all die, die mit ihren kleinen Kindern in den Schutzräumen sitzen und nicht einmal in die Küche gehen können, weil im Wohnzimmer vielleicht Terroristen sitzen.”

Bahar und Rosenfeld kennen sich nicht, sie leben knapp 100 Kilometer voneinander entfernt, der eine in einem ländlichen Kibbutz, die andere in der Metropole Tel Aviv. Aber seit diesem Samstag, seit dem 7. Oktober 2023, teilen sie eine Erkenntnis mit Millionen Israelis. In Rosenfelds Worten: "Wir wurden mit heruntergelassener Hose erwischt." In Bahars Worten: "Was die Armee angeht – das wäre einen Untersuchungsausschuss wert."
Einen Tag nach dem Überraschungsangriff der Hamas auf Israel befinden sich offenbar noch immer viele israelische Geiseln in den Händen palästinensischer Terroristen – nach Angaben der Armee eine "substanzielle Anzahl". Die Geiseln könnten als menschliche Schutzschilde genutzt werden oder als Druckmittel in Verhandlungen, 2011 wurden mehr als 1000 palästinensische Gefangene gegen einen einzigen israelischen Soldaten ausgetauscht.
Ob und wann es zu Verhandlungen kommt, ist zum jetzigen Zeitpunkt indes völlig unklar. Zu groß ist das Leid, das die Hamas über Israel gebracht hat, an einem einzigen Tag. Zu groß ist die Schmach.
Ein Tag, den sie nie vergessen werden
Die radikalislamische Hamas, die den Gazastreifen beherrscht, hatte ihren Überraschungsangriff am Samstagmorgen gegen 6.30 Uhr gestartet, mit massivem Raketenbeschuss. Tausende Geschosse regneten auf Israel nieder und überforderten zeitweise das Abwehrsystem "Iron Dome". Eine unbekannte Anzahl von palästinensischen Angreifern drang auf israelisches Territorium ein, brachte Ortschaften nahe der Grenze zu Gaza unter ihre Kontrolle. Zuvor hatten sie den Grenzzaun durchbrochen, einige waren offenbar auch mit Gleitschirmen oder per Boot auf israelischen Boden gelangt. In den sozialen Medien kursierten zahlreiche Bilder von erschossenen israelischen Zivilisten. Israel rief den Kriegszustand aus und mobilisierte Tausende Reservisten. Im Laufe des Tages konnte die Armee die meisten Ortschaften wieder befreien.
Bis zum späten Abend meldeten israelische Stellen 250 Tote und 1450 Verletzte im ganzen Land. Die Vergeltungsschläge der israelischen Luftwaffe forderten in Gaza nach palästinensischen Angaben 230 Tote und 1700 Verletzte.
Oded Bahar und Nurit Rosenfeld werden diesen Tag wohl nie vergessen, an dem Israel das zeigte, was es nie zeigen wollte: Schwäche. Rosenfeld erlebte diesen Tag aus der Entfernung, voller Ohnmacht. Bahar erlebte ihn aus nächster Nähe, voller Angst. Beide standen im Laufe des Tages immer wieder in Kontakt mit dem stern.
Bahar schrieb am Nachmittag, dass der Kibbutz ein System sei, das das ganze Leben regele. An diesem Tag aber seien alle Systeme kollabiert, vor allem das Sicherheitssystem seines Landes. Bahars geregeltem Leben wurde an diesem Tag die Regelhaftigkeit entzogen. Bahar schrieb, im selben Kibbutz lebe auch seine Tochter mit ihren drei Söhnen, ebenso sein 93-jähriger Vater. Eine Familie, ein Kibbutz. An diesem Tag: eine Familie, drei Schutzräume. Whatsapp-Nachrichten von Bunker zu Bunker. Und draußen die Raketen, die Schüsse.
Während Bahar im Schutzraum saß, saß Rosenfeld vor dem Fernseher. Sah die Aufnahmen eines Mannes, der um Hilfe schrie. Der von seiner Frau und seinen Töchtern sprach, die bei der Großmutter zu Besuch gewesen waren und aus dem Schutzraum anriefen und sagten, dass sie draußen Stimmen hörten. Seitdem habe der Mann sie nicht mehr erreichen können, schrieb Rosenfeld. Aber er habe herausgefunden, dass das Handy seiner Frau in Gaza sei.
"Ich hoffe, dass die Situation schnell wieder unter Kontrolle gerät", schrieb Rosenfeld. "Aber ich weiß auch, dass viele Menschen erst dann die traurige Nachricht bekommen werden, dass ihre Liebsten tot, verwundet oder gefangen sind."
Bahar ist Mitglied in einer Gesprächskreis, der sich bislang jeden Freitag traf, auf einem Hügel nahe Sderot, von wo der Blick bis nach Gaza reicht, an einer stillgelegten Schwefelfabrik, die im sandigen Boden versinkt. Sie saßen dort im Halbschatten unter lichten Zedern und sprachen über die Besatzung und die Blockade, und manchmal riefen sie befreundete Palästinenser auf der anderen Seite der Grenze an. Eine Übung gegen das Vergessen.
Krieg im Nahen Osten: Tote und Trauer in Israel und Gaza

"Am Horizont ist kein Ende zu sehen."
Bahar schrieb aus dem Schutzraum, die Sonne werde morgen wieder scheinen, aber sein Leben werde ein anderes sein und auch das Leben vieler weiterer Menschen. Vielleicht, schrieb er, sogar das Leben "aller Menschen zwischen dem Fluss und dem Meer", womit er die Israelis meinte, aber auch die Palästinenser. Unter den Opfern dieses Tages liegt auch die Hoffnung auf Frieden.
Auch Rosenfeld hat Familie in einem Kibbutz im Süden, auch ihre Familie flüchtete sich in Schutzräume. Manche, schrieb sie, flüsterten nur am Telefon, um nicht gehört zu werden von den Terroristen, die sich womöglich im Haus versteckten. "Sie haben Angst, als Geiseln zu enden." Ihre Tochter stand am Samstag schon am Flughafen, um nach Deutschland zu fliegen. Sie habe das Flugzeug nicht bestiegen. "Ich bin froh darüber", schrieb Rosenfeld. "Es ist nicht auszuhalten, in Zeiten wie diesen fort zu sein."
Sie selbst erlebte den Ausbruch des Sechstagekriegs 1967, während sie als junge Frau in Großbritannien studierte. Schrecklich, aber immerhin: Danach sei sie wie ein Pfau durch die Fremde stolziert, die ganze Welt habe zu Israel aufgeschaut, der schnelle Sieg habe sie stolz gemacht.
Es ist nicht ausgemacht, dass der Sieg auch diesmal schnell kommt. Oder dass er Anlass zu Stolz gibt.
Erst gegen Abend schrieb Bahar, dass die Armee den Kibbutz wieder unter Kontrolle gebracht habe und von Haus zu Haus patrouilliere, um die Familien hinauszugeleiten. Toilette, Essen, Wasser. Fünf Minuten. Dann zurück in den Bunker. Am späteren Abend versammelte die Armee die Bewohner in einem Gemeinschaftsraum.
Rund 16 Stunden hatte Oded Bahar mit seiner Frau Ofra im Schutzraum ausgeharrt. 16 Stunden, in denen draußen ein Krieg begann, der Israel verändern wird.
Nurit Rosenfeld schrieb über diesen Krieg: "Am Horizont ist kein Ende zu sehen."