Es war einmal ein Freund, ein ziemlich alter Freund, dem man länger schon nachsagte, schwierig zu sein: ruppig im Verhalten, stur im Umgang, ein wenig beratungsresistent. Nun werden langjährige Beziehungen so schnell nicht morsch, zumindest nicht wegen ein paar Charakterschwächen und Meinungsdifferenzen. Es galt, dem Freund zur Seite zu stehen. Aus historischer Verbundenheit, aber auch, weil er einiges hatte durchmachen müssen. Aufgewachsen in einer harten Weltgegend, immerzu im Krieg mit den feindseligen Nachbarn. Sein Bruder starb, da war er gerade 26.
In diesen Tagen aber droht das Band des Westens mit seinem langjährigen Weggefährten Benjamin Netanjahu zu zerreißen. Die Freunde haben sich entfremdet. Immer seltener sind sie einer Meinung. Wenn sie noch miteinander telefonieren oder sich treffen, dann ist der Ton meist rau. Kommt es hart auf hart, dann müsste die Bundesrepublik Deutschland einen israelischen Premierminister festnehmen lassen. Man will sich das nicht vorstellen.
Als Baerbock zu Besuch kam, wurde Netanjahu persönlich
Netanjahu droht ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen möglicher Kriegsverbrechen. In amerikanischen Hörsälen und auf europäischen Straßen wehen vermehrt Palästinenserfahnen, keine Flaggen mit Davidstern mehr. Mit seiner Engstirnigkeit verspielt Netanjahu viel Kredit, womöglich sogar die Zukunft seines Landes, das er doch eigentlich schützen sollte. Er hat aus Israel – einem staatgewordenen Terroropfer, das sich nach dem barbarischen Massaker der Hamas einer breiten Solidarität sicher wähnte – ein Land im internationalen Abseits gemacht.
Als der Regierungschef vor knapp einem Monat Außenministerin Annalena Baerbock in Jerusalem empfing und die Sprache auf die hungernden Menschen im Gazastreifen fiel, entbrannte ein lautstarker Streit angeblich mit folgenden, doch recht persönlichen Worten Netanjahus an seinen deutschen Gast: "Wir sind nicht wie die Nazis!"
Seinen treuesten und ältesten Freund Joe Biden besuchte Netanjahu erst gar nicht. Der US-Präsident hatte seinen Botschafter im UN-Sicherheitsrat angewiesen, eine Resolution, die Israel zum Waffenstillstand in Gaza aufforderte, nicht wie üblich zu blockieren, sondern sich zu enthalten. Israels Regierungschef blies daraufhin eine geplante Reise nach Washington in letzter Minute ab.
Der Premier kämpft vordergründig gegen Terroristen. Aber eigentlich um seinen Machterhalt
Netanjahu regiert unter einem mehrschichtigen Schirm, der sein Land vor Raketen einer breiten Terrorallianz um Hamas, Hisbollah, Huthis und den Hardlinern aus dem Iran schützt. Doch scheinbar fängt das Luftabwehrsystem auch warnende Worte verbündeter Politikerkollegen ab. Egal, wie sehr die Partner aus Deutschland, Großbritannien oder den USA ihn einhegen, ihn zu einer besonneneren Militärtaktik in Gaza überzeugen wollten – Netanjahu blockte ab, führte weiter Krieg ohne Rücksicht auf Verluste.
Trotz dickster Wolken irrlichtet er noch immer wie ein Sonnenkönig des 21. Jahrhunderts: "Der Staat, das bin ich!" Die Mehrheit der Israelis stünde doch hinter ihm, schließlich zähle nur das – so seine Argumentationslinie. Nur: Sie ist falsch.
Umfragen zufolge wünschen sich 71 Prozent der Israelis, dass Netanjahu abtritt. In Massen gingen sie bereits letzten Sommer gegen ihn auf die Straße. Der Premier hat weiterhin einen Korruptionsprozess am Hals. Vordergründig kämpft er, um die Hamas zu zerstören und die verbliebenen gut 130 Geiseln aus ihren Fängen zu befreien. Eigentlich aber kämpft er vor allem um sich selbst, für seinen eigenen Machterhalt. Er weiß, dass er den Frieden politisch nicht überleben wird. Deshalb befeuert er den Krieg.
Israel braucht Freunde. Es kann nicht alleine bestehen
Und in dem drohten zuletzt sogar die USA, die Militärmittel in Milliardenhöhe nach Tel Aviv schickten, zwei Flugzeugträger im östlichen Mittelmeer parkten und den jüdischen Staat auch vor iranischen Raketen schützten, ihre Schützenhilfe zu versagen. Im Falle einer Großoffensive in Gazas südlichster Stadt Rafah würden Waffenlieferungen unverzüglich gestoppt, warnte Biden. Netanjahus trotzige Reaktion: "Wenn wir allein bestehen müssen, dann werden wir allein bestehen." Und wenn das hieße, "mit Fingernägeln" zu kämpfen.
Genau das ist sein Denkfehler: Israel kann den Krieg gegen die Feinde seiner Existenz nicht allein gewinnen. Es braucht Freunde, die ihm den Rücken freihalten. Es braucht die Unterstützung von außen, um im Nahen Osten zu bestehen – die militärische aus Washington, die moralische aus Berlin, die Annäherung ans saudische Riad. Wohl auch deshalb scheint Netanjahu bei der Operation Rafah einen Rückzieher zu machen. Amerikanischen Regierungskreisen zufolge soll das israelische Kriegskabinett die Angriffspläne nun doch "aktualisiert" haben. Keine zwei vollen Divisionen mehr, sondern ein schmalerer militärischer Rahmen.
Was aber kommt nach Rafah? Was, wenn alle Geiseln endlich befreit sind? Oder auch nicht? Was, wenn der letzte Hamas-Scherge aus dem tiefsten Tunnel unter Gaza gezogen wurde? Oder auch nicht? Echten Frieden kann es nur unter zwei Prämissen geben: Sicherheit für Israel und eine terroristenfreie Selbstverwaltung für die Palästinenser. Als seine alten Verbündeten Benjamin Netanjahu in den vergangenen Wochen und Monaten nach einem Plan für das Danach fragten, tat er etwas Ungewöhnliches. Er schrie nicht. Er schwieg einfach. Wenn Freunde nicht mehr sprechen, ist das ein schlechtes Zeichen.