EU-Austritt Und nun? Wie geht es im Brexit-Chaos weiter?

Anti-Brexit-Demonstranten
Vor dem House of Parliament in London demonstrierten am Dienstag Briten gegen die Brexit-Pläne von Premier Boris Johnson
© Daniel Leal-Olivas / AFP
Chaostage in London: Nach dem denkwürdigen Abend im Parlament ist unsicherer denn je, ob der Brexit wirklich Ende Oktober über die Bühne gehen wird. Welche Möglichkeiten haben Befürworter und Gegner? Der stern beantwortet die wichtigsten Fragen zum EU-Austritt Großbritanniens.

Es ist eine Kraftprobe ohne Vergleich, die zurzeit in London zu beobachten ist: Premierminister gegen Abgeordnete, Brexit-Befürworter gegen -gegner. Und staunende Beobachter des ganzen Chaos: Millionen von Briten, die eigentlich überhaupt nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll.

Das nächste Kapitel wird am Mittag aufgeschlagen. Dann muss sich Premier Boris Johnson den Fragen der Abgeordneten stellen. Um 16 Uhr soll die Debatte im Parlament beginnen. Und dann? Der stern beantwortet die wichtigsten Fragen:

Um was geht es heute im Parlament?

Das Parlament hatte am Dienstag gegen den Willen der Regierung den Weg für ein Gesetzgebungsverfahren frei gemacht, mit dem ein EU-Austritt-Großbritanniens ohne Abkommen am 31. Oktober verhindert werden soll. Der Entwurf soll schon am Mittwoch durch das Unterhaus gepeitscht werden, damit er so schnell wie möglich dem Oberhaus vorgelegt werden kann. Sollten dort die Lords auch zustimmen, kann der Entwurf Gesetz werden. Der Antrag müsste dann von den übrigen 27 EU-Mitgliedstaaten bewilligt werden. 

Verschiebt sich der Brexit-Termin also weiter?

Das geplante Gesetz sieht vor, dass Johnson eine Verschiebung des EU-Austritts beantragen muss, sollte bis zum 19. Oktober kein Austrittsabkommen ratifiziert sein. Bis kommenden Sonntag muss das Gesetz das Oberhaus passieren und der Königin präsentiert werden – die es dann absegnet. Dann muss Johnson sich an den Aufschub halten.

Wie reagiert Boris Johnson auf die neue Lage?

Johnson will unter "keinen Umständen" eine Verlängerung der Brexit-Frist bei der EU aushandeln. Er hofft daher auf eine Neuwahl. Der britische Premier will sie beantragen, wenn ihm die Abgeordneten im Parlament den Weg zu einem No-Deal-Brexit per Gesetz versperren. Das kündigte er am späten Dienstagabend nach seiner Niederlage gegen die Gegner seines Brexit-Kurses an. "Ich will eigentlich keine Wahl, aber wenn die Abgeordneten für eine weitere sinnlose Verzögerung des Brexits stimmen, wäre das der einzige Ausweg", sagte Johnson. 

Wird also bald neu gewählt?

Für die Ansetzung von Neuwahlen braucht der Premier die Zweidrittelmehrheit des Parlaments. Oppositionsführer Jeremy Corbyn hatte zwar zuvor ebenfalls erklärt, dass er "absolut bereit" zu Neuwahlen sei.

Doch ob es dabei bleibt und ob sich die Opposition insgesamt darüber einig ist, muss sich erst noch zeigen. Das Vertrauen gegenüber dem Premier ist inzwischen selbst bei Abgeordneten der eigenen Partei aufgebraucht. Dass es nach Neuwahlen wieder eine konstruktive Zusammenarbeit gibt, ist nicht sicher. Denkbar ist auch, dass Johnson und einige Abgeordnete dort weitermachen, wo sie jetzt stehen: im Streit. Und Johnson seine Brexit-Idee mit aller Macht durchzusetzen versucht. Oder das Parlament ihn weiter blockiert.

Doch eine Neuwahl ist eigentlich unumgänglich. Johnson hatte am Dienstag seine hauchdünne Mehrheit eingebüßt. 21 Rebellen aus Johnsons Tory-Partei, die gegen die Regierung gestimmt hatten, wurden aus der Fraktion ausgeschlossen. Darunter der ehemalige Schatzkanzler Philip Hammond und Alterspräsident Ken Clarke. Sie sollen nun bei der nächsten Parlamentswahl nicht mehr für die Konservativen antreten dürfen. Die Regierung hatte die harte Vorgehensweise gegen Abweichler bereits angekündigt. Manch einer der Rebellen soll sich dadurch erst Recht ermutigt gefühlt haben, dem Regierungschef die Stirn zu bieten. Noch während der Johnson am Rednerpult stand, hatte der konservative Abgeordnete Phillip Lee aus Protest gegen Johnsons Brexit-Politik demonstrativ die Regierungsfraktion verlassen und nahm zwischen den Oppositionsabgeordneten Platz. 

In Umfragen hat Johnson durch seinen Konfrontationskurs gegenüber dem Parlament zuletzt massiv an Zustimmung gewonnen, durch vorgezogene Neuwahlen könnte er sich womöglich eine neue Mehrheit im Parlament sichern. 

Warum ist die Situation derart eskaliert?

Zu Wut und Empörung hatte auch die Entscheidung Johnsons geführt, das Parlament noch vor dem Brexit-Datum für mehrere Wochen zu suspendieren. Gegen diesen Schritt wurde in gleich mehreren Gerichten im Land Klage eingereicht. Das oberste schottische Gericht in Edinburgh entschied jedoch am Mittwoch, dass Johnson rechtmäßig gehandelt hat. Am Donnerstag sollte der Fall vor dem High Court in London verhandelt werden. Ein letztinstanzliches Urteil dürfte aber am Ende der Supreme Court fällen.

DPA · AFP
Andrea Ritter / wue