Anzeige
Anzeige

Deutsche Tabus Engholm in der Badewanne

Der Westen ist liberal, die anderen nicht? Ganz so einfach funktioniert die Gleichung nicht. stern.de hat anlässlich der Debatte um die Mohammed-Karikaturen nach Tabus in Deuschland gefahndet - und einige Gerichtsfälle gefunden.
Von Silke Haas und Lutz Kinkel

Wer derzeit die Homepage des Satire-Magazins "Titanic" ansurft, sieht eine aktuelle Karikatur: Sie zeigt das auf den Kopf gestellte Porträt eines bärtigen Mannes. Darunter steht die Zeile "Karikaturenstreit bizarr: Baselitz malt Mohammed." Dann verschwindet das Bild und der "Newsticker" füllt den Monitor. Darin ist zum Beispiel die Geschichte eines Imans zu lesen, der mit seinem Fahrrad über eine Glasscherbe gefahren sei. Kurz darauf sei in Afghanistan ein wütender Mob auf Fotos von Glasscherben herumgetrampelt und habe Fahrradläden angezündet. Eine weitere unnötige Provokation?

Thomas Gsella, Chefredakteur der "Titanic", hat für die weltweite Empörung der Moslems über religiöse Satiren wenig Verständnis. "Der Westen wäre schlecht beraten, gute Witze abzuschaffen", sagt er im Gespräch mit stern.de. Deutsche Kritiker seiner teils rabiaten Satiren fürchtet er noch weniger. Acht Mal habe die katholische Kirche "Titanic" verklagt, acht Mal habe sein Blatt gewonnen. Nur der ehemalige Kanzlerkandidat der SPD, Björn Engholm, habe einen Prozess für sich entscheiden können - "Titanic" hatte dessen Gesicht in das Foto montiert, das den toten Uwe Barschel in der Badewanne zeigt. 40.000 Mark musste "Titanic" für diese und weitere "Ehrverletzungen" Engholms zahlen, aber dabei blieb es auch. "Man kann hier leichter arbeiten als im Gaza-Streifen", lobt Gsella die Toleranz der Deutschen. "Es gibt nur die Tabus, die wir uns selber setzen."

Inzest und Tierpornos

Tatjana Hörnle, Professorin für Strafrecht an der Uni Bochum, sieht die Lage anders. Sie hat über das Thema "Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus" habilitiert und kennt daher die offiziellen Befindlichkeiten. Im Hinblick auf die Presse- und Meinungsfreiheit gibt sie zu bedenken, dass Staatsanwälte und Richter toleranter sind als die Paragraphen, auf die sich sich stützen: "Die Gesetze sind da. Wenn ein Richter möchte, dann erlauben die weichen Formulierungen im Gesetz - 'Störung des öffentlichen Friedens', 'Beschimpfung' - eine Verurteilung. Aber in der Praxis werden die Gesetze meistens liberal gehandhabt", sagt sie.

In ihrer Untersuchung hat sie sogar einige Gesetze identifiziert, die juristisch kaum zu begründen sind, die aber gesellschaftliche Normen und Tabus widerspiegeln. Ein Beispiel dafür ist das Verbot des Inzests, das damit begründet wird, man wolle genetische Defekte bei Kindern verhindern. "Aber: Warum sollte es eine Strafnorm geben, die behinderte Kinder verhindert", fragt Hörnle. Mit derselben Argumentation könnte man schließlich auch ganz normalen aber erblich vorbelasteten Paaren verbieten, eine Familie zu gründen. Juristisch zweifelhaft ist in ihren Augen auch das Verbot der Tierpornographie. "Natürlich gibt es Fälle, bei denen sich Tierquälerei nachweisen lässt. Aber das ist nicht immer so", sagt Hörnle. "Es ist schwierig zu sagen, wer da eigentlich verletzt wird."

"Deutschland verrecke"

Zu den strafrechtlich relevanten Tatbeständen zählt natürlich auch weniger abseitiges Verhalten - zum Beispiel die Verunglimpfung von religiösen und staatlichen Symbolen. Aber hier sind die Gerichte im Zweifelsfall liberal, wie etwa das Verfahren gegen die Punkband "Slime" zeigte. 1997 spielte sie auf einer Demo in Berlin einen Song mit dem Refrain "Deutschland muss sterben, damit wir leben können", in der letzten Zeile heißt es gar "Deutschland verrecke." Die Klage gegen "Slime" ging bis vor das Bundesverfassungsgericht - das dem Lied den Schutz der Kunstfreiheit zubilligte. Alle vorhergehenden Verurteilungen waren damit kassiert.

Rein zahlenmäßig sind Verfahren gegen Menschen, die den Staat oder die Religion verhöhnen, eher selten. Wesentlich häufiger beschäftigen sich die Gerichte mit Holocaust-Leugnern und Neonazis. Das juristische Engagement gegen Rechtsradikale geht mitunter so weit, dass es sich selbst karikiert. So berichtete die Zeitschrift Neon in ihrer Februar-Ausgabe von einem Tübinger Student, der zu 150 Euro Geldstrafe verurteilt wurde, weil er einen Button mit einem durchgestrichenen Hakenkreuz trug - ein Abzeichen, das soviel bedeutet wie "Nazis raus!". Die Richterin Christiane Barth begründete ihr Urteil mit den Worten, selbst im Kampf gegen rechts dürften keine verfassungswidrigen Zeichen verwendet werden.

Pinke Tannenbäume

"Das Selbstverständnis der Bundesrepublik gründet sich darauf, sich scharf gegen den Nationalsozialismus abzugrenzen", erläutert Hörnle. Um den Rechtsradikalismus zu bekämpfen, seien Straftatbestände eingeführt worden, "die schwer rational zu begründen sind". Anders gesagt: Wenn es jedermann frei steht zu behaupten, die Erde sei eine Scheibe und Tannenbäume pink, warum sollte man nicht den Holocaust leugnen dürfen? Der Grund, es dennoch zu tun, ist ein politischer - die Demokratie verteidigt sich von Rechts wegen selbst.

Hörnle hat in ihrer Untersuchung vielerlei Gesetze gefunden, die eher volkspädagogischen Charakter haben - und umgekehrt auf immer noch existierende Tabus verweisen. Das ist auch in ihren Augen nicht unbedingt ein Unglück: "Tabus sind per se nicht schlecht - es stellt sich nur die Frage, ob sie vom Strafrecht geschützt werden müssen. Und da bin ich der Meinung: nein." Womit die unbequeme Frage bleibt: Wie viel Freiheit traut sich die Bundespublik zu, nicht nur im Alltag, sondern auch im Gesetzbuch?

Mehr zum Thema

Newsticker