An einem strahlend blauen Januartag sitzt Eike Barschel an der Kieler Bucht und beobachtet die Schiffe, die an den großen Panoramafenstern des Restaurants vorbeiziehen. Der Unternehmensberater ist ein zäher, beharrlicher Mann. Schon zweimal ist der 75-Jährige den Jakobsweg gepilgert. "Über 2000 Kilometer, das erste Mal auf dem Rad und dann zu Fuß.“ Seit er in Kiel lebt, fährt er bei jedem Wetter mit dem Rad die Küste entlang. Er zitiert ein afrikanisches Sprichwort: "Ausdauer ist wichtiger als Stärke." Seit bald 30 Jahren kämpft der Ausdauernde um seine Wahrheit, die Wahrheit der Familie Barschel.
Diese Wahrheit lautet: Sein Bruder Uwe Barschel wurde ermordet, damals in Genf, in jener Nacht vom 10. auf den 11. Oktober 1987.
Dieser Tod war der Tiefpunkt einer der rätselhaftesten Politaffären der Bundesrepublik. Sie begann als Machtkampf im kleinen Schleswig-Holstein und wurde zu einem weltweiten Verwirrspiel um Waffenhändler, Auftragskiller und Geheimdienste – ein Fall, so mysteriös wie die Ermordung John F. Kennedys. Nur dass bei Kennedy wenigstens klar ist, dass er ermordet wurde. Bei Uwe Barschel weiß man heute nicht einmal das. Da sind nur diese beiden Bilder, tief eingebrannt ins kollektive Gedächtnis wie der Zapruder-Film von Kennedys Ermordung. Nur drei Monate liegen zwischen den Bildern – und ein Sturz ins Bodenlose, tiefer und schneller als in jedem antiken Drama.
"Es ist jedes Mal ein Schock"
Das eine zeigt den Ministerpräsidenten und Ehrenmann Uwe Barschel, die rechte Hand am Herzen. Der "Spiegel" druckte es als Titelbild mit der Schlagzeile "Das Ehrenwort – Gefängnis für Dr. Uwe Barschel?". Kurz zuvor hatte Barschel seine aufsehenerregende Pressekonferenz gegeben, bei der er "der gesamten deutschen Öffentlichkeit" sein Ehrenwort gegeben hatte, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe haltlos seien. Auf dem anderen Bild sieht man den toten Uwe Barschel in der Badewanne von Zimmer 317 im Genfer Hotel Beau Rivage. Der Reporter Sebastian Knauer hat es gemacht, und der stern veröffentlichte es wenige Tage später auf seinem Titel.
Eike Barschel zieht eine Tageszeitung aus seiner Tasche und breitet sie auf dem Tisch aus. Das hört nie auf. Da ist es schon wieder, das Bild seines toten Bruders. "Es ist jedes Mal ein Schock", sagt Barschel, "ich schaue dann meistens schnell weg.“
Bilder haben große Macht, aber sie können auch täuschen. Eike Barschel schaut noch einmal genauer hin: Das ist gar nicht sein Bruder, sondern der Schauspieler Matthias Matschke, der Uwe Barschel in einem neuen Doku-Drama der ARD spielt. Auch das Ehrenwortbild, auf dem Barschel seine Hand ans Herz legt, ist eine Täuschung. Es wurde nicht während der Pressekonferenz gemacht. Und doch wirkt es bis heute wie ein Beweis für die verlorene Ehre des Uwe Barschel. Von Anfang an sei für ihn undenkbar gewesen, erklärt Eike Barschel, dass sein Bruder Selbstmord verübt haben könne. Schließlich könnte ein Suizid auch als Schuldgeständnis gedeutet werden. „Es war ein Fehler, dass er zwei Personen zu Falschaussagen verführt hat", sagt Eike Barschel. "Aber sein Ehrenwort war richtig."
Familie glaubt an eine Art "Doppelmord"
Tatsächlich kam ein Untersuchungsausschuss 1995 zum Ergebnis, dass es keine Beweise für eine Mitwisserschaft des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Barschel an den Machenschaften seines Medienberaters Reiner Pfeiffer gab. Der hatte SPD-Herausforderer Björn Engholm anonym als Steuerhinterzieher angezeigt, Pressemitteilungen gefälscht, Unwahrheiten gestreut und sogar versucht, den Barschel-Konkurrenten am Telefon mit frei erfundenen Geschichten über eine angebliche HIV-Infektion zu verunsichern. Als Jahre später herauskam, dass sich Pfeiffer vor der Wahl auch der SPD anvertraut und später von SPD-Minister Günther Jansen 50.000 Mark in bar erhalten hatte, musste auch Barschel-Nachfolger Engholm zurücktreten.
Aus Sicht der Familie wurde Uwe Barschel zum Opfer eines Doppelmords, indem man ihm erst seinen guten Ruf und dann das Leben nahm. "Seine Leistungen werden totgeschwiegen“, ärgert sich sein Bruder.
Eike Barschel lebte damals in der Nähe von Genf und telefonierte noch am Abend der Todesnacht zweimal mit seinem Bruder. Sie wollten zusammen mit Uwes Kindern, die in den Ferien bei Eike wohnten, um 20 Uhr eine Zirkusvorstellung besuchen. Bringt sich denn ein Vater kurz vor dem Wiedersehen mit seinen Kindern um, für die er sogar Geschenke mitgebracht hat?
"Wir sitzen hier, und der ist vielleicht schon tot"
Vorher wollte Uwe Barschel noch einen mysteriösen Informanten treffen, einen Mann namens Roloff, der ihn angeblich mit der Aussicht auf Entlastungsmaterial nach Genf gelockt hatte. "Mein Bruder wirkte bei unserem zweiten Gespräch gelöst“, erinnert sich Eike Barschel. "Die Transaktion geht jetzt los“, habe Uwe gesagt. Es war das letzte Lebenszeichen. Eike und die Barschel-Kinder gingen allein in den Zirkus. Als Uwe am nächsten Tag nicht wie verabredet zum Frühstück auftauchte, war Eike alarmiert. Er telefonierte erfolglos die Genfer Hotels ab.
Schon am Vorabend waren der stern-Reporter Sebastian Knauer und der Fotograf Hanns-Jörg Anders nach Genf geflogen, um ein Interview mit Barschel zu ergattern. Am 11. Oktober 1987 warteten die beiden Journalisten schon ab 6 Uhr in der Hotellobby, um Barschel abzupassen. Immer wieder ging Knauer hoch in den dritten Stock und klopfte an die Tür. Keine Antwort. Anders ahnte nichts Gutes: "Ich habe zu Sebastian gesagt: Wir sitzen hier unten, und der ist vielleicht schon tot.“
Das Beau Rivage wirkte wie eine Filmkulisse für Agententhriller. Durch den weitläufigen Innenhof konnte man unbeobachtet kommen und gehen. Ein Hotel für Gäste, die Diskretion schätzen, um nicht zu sagen: Verdunkelung. Hanns-Jörg Anders erinnert sich noch heute an die „sehr kalten Augen“ eines Bodyguards, der im zweiten Stock das Zimmer eines Diamantenhändlers bewachte. „Ein gehobenes Ganovenhotel“, sagt Knauer. Der Kellner erzählte von Gästen wie Waffenhändler Kashoggi und „Bond“-Darsteller Roger Moore.
Der tote Uwe Barschel - eine Sphinx im Bad
Am späten Vormittag gingen die beiden Journalisten noch einmal zu Zimmer 317 hoch. Am Türknauf hing ein Schild: "Bitte nicht stören“. Knauer klopfte erneut. Als er keine Antwort bekam, drückte er die Klinke, ging ins Zimmer und fand schließlich im Bad den Leichnam Uwe Barschels. Da sich Hanns-Jörg Anders weigerte, ihm ins Zimmer zu folgen, lieh sich Knauer dessen Kamera. Er fotografierte Barschels Leiche und den Tatort. Der stern druckte das Bild des toten Politikers auf dem Titel seiner Ausgabe am 22. Oktober.
Drei Jahrzehnte später sitzt das ungleiche Duo in einem Hamburger Café zusammen: der sanfte Anders und der bestimmt auftretende Knauer. Beide waren nur deshalb in Genf, weil sie damals als Einzige in der Redaktion erreichbar waren. Seitdem hat Anders alles getan, um die Ereignisse zu vergessen. Knauer aber lassen sie bis heute nicht los. „Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben“ , sagt Anders. Seine Kamera hat er längst verkauft: „An Sebastian.“ Der kramt jetzt ein Paar alte Schuhe aus der Tasche und stellt sie auf den Kaffeehaustisch: schwarze Ecco-Herrenschuhe, Größe 45 1/2. Er hat sie 20 Jahre nach Barschels Tod beim Aufräumen gefunden. Könnte der mysteriöse Schuhabdruck auf dem Badewannenvorleger vielleicht von ihm stammen?
"Ich habe die Schuhe der Generalstaatsanwaltschaft übermittelt", sagt Knauer mit leidgeprüfter Verbitterung in der Stimme, "und fünf Jahre nichts mehr gehört." Eine DNA-Probe habe auch später niemand von ihm verlangt, dabei sei er doch am Tatort gewesen. Vom Lübecker Chefermittler Heinrich Wille hat er keine gute Meinung: "Barschel hätte einen besseren Staatsanwalt verdient. Ich kenne keinen anderen Fall, der so unbefriedigend abgeschlossen ist." Da die Tatort-Aufnahmen der Genfer Polizei unbrauchbar waren, wurden Knauers Bilder zu wichtigen Beweisstücken – ohne dass bis heute enträtselt werden konnte, was sie denn nun belegen. Das Bild des toten Uwe Barschel – eine Sphinx im Bad.
Der mysteriöse "Roloff" wurde nie gefunden
"Selbstmord wäre ein ganz fürchterlicher Schock für die Familie", sagt Eike Barschel. Ein politischer Mord aber wäre eine Katastrophe für Deutschland. Die Öffentlichkeit entschied sich für das kleinere Übel und glaubte fortan an Selbstmord. Sogar Barschels letzte Lektüre wurde als Beleg für Selbstmordabsichten gedeutet. Schließlich lag auf seinem Hotelbett ein aufgeschlagenes Buch mit den gesammelten Erzählungen des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre. Darin die Geschichte von drei zum Tode verurteilten Männern und Sätze wie dieser: "In diesem Moment hatte ich den Eindruck, als läge mein ganzes Leben ausgebreitet vor mir, und ich dachte: 'Das ist eine verdammte Lüge.‘ Es war nichts mehr wert, denn es war zu Ende."
Man unterstellte Barschel posthum, er habe seinen Suizid als Mord inszeniert und bewusst falsche Spuren im Hotelzimmer gelegt: etwa die Notizen auf dem Nachttisch, in denen "Roloff“ auftauchte, der ihm Entlastungsmaterial übergeben sollte. War Barschel das Opfer eines tödlichen Komplotts, gesponnen von Politikern, Geheimdiensten und Waffenhändlern? Hatte man ihn unter falschem Vorwand nach Genf in eine Falle gelockt? "Roloff“ wurde nie gefunden.
Der Tod des Vaters, Bruders, Ehemanns Uwe Barschel ist ein doppeltes Trauma für die Familie. "Man muss lernen zu warten", sagt seine Witwe Freya am Telefon. Sie hat nichts unversucht gelassen seit dem Tod ihres Mannes. Als die Anwälte und Detektive ihres Schwagers nicht mehr helfen konnten, wandte sich Freya an ein spiritistisches Medium, um Kontakt zu ihrem Mann im Jenseits aufzunehmen. Geisterbeschwörung in der Villa Barschel am Schmalsee in Mölln, wo alles noch so aussieht wie zu Lebzeiten des Verstorbenen. Das Medium kam in Begleitung eines Fernsehteams von RTL und verkündete vor laufender Kamera: Uwe Barschel ist ermordet worden. Eike Barschel brach daraufhin den Kontakt zu seiner Schwägerin ab. Der mysteriöse Mord sei ein gefundenes Fressen für "Glücksritter, Geschichtenerzähler, Abenteurer, Aufschneider und Wichtigtuer“ , schrieb 2007 der Generalstaatsanwalt von Schleswig-Holstein, Erhard Rex, in einer Dokumentation.
War es ein Geheimdienst? War es eine Verbrecherorganisation?
Nicht weniger als zwölf verschiedene Geheimdienste und zahlreiche internationale Verbrecherorganisationen wurden als Täter gehandelt. Mal sollte der Mossad dahinterstecken, dann der KGB, die Südafrikaner oder die italienische Camorra. Zeugen wollten Barschel sogar auf der Yacht des Waffengroßhändlers Adnan Kashoggi in Marbella oder im vertrauten Gespräch mit dem Sohn des iranischen Revolutionsführers Khomeini in Genf gesehen haben.
Besonders beliebt wurde die Behauptung, das Ministerium für Staatssicherheit der DDR habe Barschel gemeuchelt. War der Ministerpräsident nicht auffällig oft in die DDR gereist und dort stundenweise für konspirative Treffen abgetaucht? Und was ist mit dem Gerücht, die Stasi habe schon nach kurzer Zeit den Obduktionsbericht von Barschels Leiche in den Händen gehabt?
Auf Betreiben der Familie eröffnete die Lübecker Staatsanwaltschaft sieben Jahre nach Barschels Tod ein Ermittlungsverfahren. So wurde Heinrich Wille für den Fall zuständig. Der Leitende Oberstaatsanwalt ließ die Asservate aus dem Genfer Hotelzimmer erneut untersuchen und alle Zeugen vernehmen, deren man habhaft werden konnte: vom Hotelpförtner über Barschels Familienangehörige bis zum ehemaligen iranischen Staatspräsidenten Abol Hassan Banisadr, den die Ermittler im Pariser Exil aufsuchten.
"Die CIA weiß, wer es war"
Die Ermittlungen warfen viele neue Fragen auf, ohne Antworten zu liefern. 1998 mussten die Lübecker Ermittler auf Geheiß des Kieler Generalstaatsanwalts ihre Arbeit einstellen. Wille ließ nicht locker. Er schrieb ein Buch, dessen Veröffentlichung ihm sein Dienstherr zunächst untersagte. Titel: "Ein Mord, der keiner sein durfte". Heute ist Wille mehr denn je davon überzeugt, dass Uwe Barschel ermordet wurde und seine Ermittlungen aus politischen Gründen behindert wurden.
Beim Treffen in einem Lübecker Café macht der ehemalige Chefermittler seinem Herzen Luft. "Die Ignoranz, mit der jeder Hans und Franz die Selbstmordthese vertritt!" Heinrich Wille ist ein Gemütsmensch. Aber er lässt sich nicht von Hobbyermittlern für dumm verkaufen. "Die CIA weiß, wer Barschel umgebracht hat", erklärt Wille mit sonorer Stimme und legt noch einmal nach: Kohl, Stoltenberg, Genscher – "allesamt in der Lage, Staatskriminalität zu begehen!" Aus Willes Sicht gibt es genug Gründe, am Selbstmord zu zweifeln. Etwa die spurlos verschwundene Rotweinflasche, die Barschel beim Zimmerservice bestellt hatte. Oder das Fläschchen Jack-Daniel’s-Whiskey, das zwar ausgespült worden war, in dem aber dennoch der Wirkstoff Diphenhydramin nachgewiesen wurde. Der fand sich auch in Barschels Leichnam.
Wieso hatte jemand die Weingläser sorgfältig abgewischt, sodass keine Fingerabdrücke gesichert werden konnten – nicht einmal Barschels eigene? Warum war einer seiner Schuhe zugeknöpft, der andere offen? Dann ist da der abgerissene Hemdknopf. „Der zweite von oben“, sagt Wille und zupft umständlich an seinem Schlips. "Versuchen Sie mal, sich den unter der Krawatte senkrecht von oben nach unten herauszureißen." Und woher rührte das Hämatom am Hinterkopf des Toten? Hatte ein Kampf in Zimmer 317 stattgefunden?
Einen Mörder kann Wille auch nicht nennen. Aber er hat unlängst einen Brief aus Frankreich erhalten, in dem das Erscheinungsbild des Tatorts als kabbalistische Botschaft erklärt wird. Die Flasche Jack-Daniel’s-Whiskey etwa – ganz klar eine Anspielung auf den Propheten Daniel im Alten Testament. "Die Anordnung der Jack-Daniel’s-Flasche“, erläutert Willes Briefschreiberin, "war eine Warnung an die, die sich in der Löwengrube internationaler Waffengeschäfte mit mutmaßlichen Auftraggebern anlegen."
Wille findet die Idee gar nicht so abwegig. Es müsse nicht der Mossad selbst gewesen sein, der erst Barschel ermordete und dann die bühnenreife Inszenierung aus dem Alten Testament schuf. "Aber es ist immerhin eine Erklärung für Dinge, die wir bisher nicht erklären konnten." Wer hätte ein Interesse gehabt, Barschel zu beseitigen, und warum? Als Ministerpräsident hatte Barschel enge Kontakte zum Kieler Schiffsbauer HDW, der in den 80er Jahren wegen dubioser UBoot-Geschäfte mit dem Apartheid-Regime in Südafrika in die Kritik geraten war. Wollte Barschel nach seinem Sturz über die illegalen Waffengeschäfte auspacken und damit Parteifreunden und Waffenhändlern gefährlich werden?
Eike Barschel erinnert sich, sein Bruder habe ein Buch schreiben wollen, um seine Ehre zu retten.
Schlampige Arbeit der Genfer Ermittler
Fragt sich nur: Was ist die "volle Wahrheit"? Trotz zahlreicher Anhaltspunkte konnte eine Verwicklung Barschels in Waffengeschäfte nie eindeutig belegt werden. Die Spekulationen wurden durch die schlampige Arbeit der Genfer Ermittler gefördert. Sie versäumten es, die Wassertemperatur in der Badewanne zu messen – ein wichtiger Indikator für den Todeszeitpunkt. Die Tatortfotos waren unterbelichtet und damit wertlos. Die Genfer Staatsanwaltschaft wollte den Fall als Selbstmord zu den Akten legen.
Aber Eike Barschel wehrte sich. Am Tag nach dem Tod seines Bruders gab er mit seiner Schwägerin Freya eine Pressekonferenz in Genf und behauptete schon damals: Es war Mord. "Mit mir hatte keiner gerechnet", sagt Barschel. "Die Polizei war überrascht, dass da plötzlich ein Bruder vor Ort war, der auch noch die Courage hatte, vor der internationalen Presse aufzutreten." Dann habe das Kesseltreiben gegen ihn und die Familie begonnen. "Der BND hat sofort nach der Pressekonferenz die Fäden gezogen", sagt Eike Barschel. "Man hat versucht, mich mundtot zu machen." Wenige Monate später musste er seinen Vorstandsposten beim Konzern Wild Leitz aufgeben, nachdem der Aufsichtsrat ein BND-Dossier über ihn zugesteckt bekommen habe.
Jahrelang habe man ihn beschattet, und zwar so, dass er es merken sollte. Erst 1996 habe das aufgehört.
Vom Typ her wirkt er ganz anders als sein verstorbener Bruder. Der konservative Uwe blieb zeitlebens in Schleswig-Holstein verwurzelt, heiratete eine geborene von Bismarck und entspannte sich daheim bei Hausmusik mit Frau und Kindern.
Der vier Jahre ältere Eike dagegen: ein liberaler Kosmopolit, der im Ausland studierte, eine Franko- Schweizerin heiratete und mit seinen Kindern französisch spricht. Beide ehrgeizig und auf ihre Art sehr erfolgreich. Während Uwe sich mit zähem Fleiß durch die Niederungen der schleswig-holsteinischen Provinzpolitik nach oben kämpfte und dabei immer ein wenig steif wirkte, machte sein Bruder Karriere in der internationalen Wirtschaft. Auch politisch lagen sie nicht immer auf einer Linie. "Mein Bruder war früher ein Hardliner", erzählt Eike Barschel, "das hat auch zeitweilig zwischen uns gestanden." Aber in den letzten fünf Jahren seines Lebens habe Uwe sich entwickelt, sei offener und toleranter geworden.
"Uwe hatte Angst"
Sein Flugzeugunfall Ende Mai 1987 habe bei seinem Bruder tiefe Spuren hinterlassen. Uwe Barschel überlebte als Einziger den Absturz einer Cessna auf dem Flughafen Lübeck-Blankensee. Im Krankenhaus sehen sich die Brüder das letzte Mal, und Eike spürt: "Uwe hatte Angst." Seit dem Flugzeugunfall schluckte der Politiker die doppelte Menge des Beruhigungsmittels Tavor, das er schon vorher regelmäßig eingenommen hatte. Bei der Obduktion seines Leichnams fand man in seinem Blut außerdem noch die Wirkstoffe Pyrithyldion, Diphenhydramin, Perazin und Cyclobarbital. Der von Eike Barschel beauftragte Toxikologe Hans Brandenberger kam zu dem Ergebnis, Barschel habe das tödliche Cyclobarbital nicht selbst einnehmen können, weil er durch die anderen Medikamente bereits handlungsunfähig geworden sei.
Wurde der Politiker also doch von Auftragskillern ermordet? Heinrich Wille glaubt fest daran und raunt, Brandenberger habe vor einiger Zeit Drohungen erhalten, nachdem er sich wieder öffentlich zu dem Fall geäußert hatte. Je länger Barschels Tod zurückliegt, desto mysteriöser wirkt er. Die Nacht von Genf wirft bis heute ihre Schatten auf das Leben der Beteiligten. Was für ein Filmstoff.
Auch Barschels ehemaliger Medienreferent Reiner Pfeiffer, der Auslöser der ganzen Affäre, kam nie wieder von der Geschichte los. In den letzten Jahren seines Lebens war er ein kranker, gebrochener Mann, und doch überraschte ihn der Tod. Am Morgen des 12. August 2015 entdeckte man seinen Körper leblos neben dem Bett liegend. Was bisher nicht bekannt war: Pfeiffer starb keines natürlichen Todes. Er war gestürzt und dabei so unglücklich zwischen das Gestänge des Krankenbetts geraten, dass er sich selbst erwürgte.