"Shock and Awe" sollte eine den Gegner überwältigende Überraschungstaktik der US-Militärs im Irak-Krieg sein. Der Gegner sollte durch Plötzlichkeit und Gewalt eines Feuerangriffs vor Schock wie gelähmt sein.
Ein Jahr nach dem offiziellen Kriegsende sieht sich die US-Öffentlichkeit unversehens als Opfer eines ganz anderen "Shock and Awe": Nicht durch El Kaida, nicht durch die Gewalt überlegener Feuerkraft, sondern durch Digitalfotos aus US-Militärgefängnissen in Irak - aufgenommen von eigenen Soldaten.
Dies ist die Atmosphäre, die Außenminister Joschka Fischer vorfand, als er am Dienstag in den frühen Morgenstunden zu seinem Besuch in Washington einflog. Die Stimmung schwankt zwischen wütendem Verlangen nach der ganzen Wahrheit und Versuchen, die Foltervorwürfe zu relativieren. Auf dem Programm des Grünen-Politikers stehen unter anderem Gespräche mit US-Außenminister Colin Powell am Dienstagabend und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice.
Während dieser Unterredungen stand der amerikanische Generalmajor Antonio Taguba bei einer Anhörung im Kongress Rede und Antwort. Er sagte, dass der Folterskandal in dem Militärgefängnis Abu Ghoreib auf das Versagen der Führungsstrukturen in der US-Armee zurückgehe.
Der hochrangige Soldat hatte die Misshandlungsvorwürfe Anfang des Jahres untersucht und in einem vertraulichen Bericht Anfang April dokumentiert. Taguba prangerte mangelnde Disziplin, fehlende Ausbildung und nicht vorhandene Aufsicht der Soldaten und Militärpolizisten an.
"Befehlskette" nennt der "New Yorker", der einen großen Teil der Bilder veröffentlicht hatte, einen Bericht über die Folterknechte von Abu Ghoreib. Dass die Affäre nämlich auch Soldaten in höheren Rängen umfasst, sieht man zwar auf den Bildern nicht. Doch Tim Russert von NBC, einer der wichtigsten TV-Nachrichtenjournalisten fragt sich: "Wer kann das alles bloß genehmigt haben? Die Leute von der Nationalgarde gehen doch nicht mit Kapuzen und Hundeleinen im Gepäck nach Irak."
Um die Grauzone zu unterstreichen, verweist der "New Yorker" auf den Bericht auf eben jenen Generalmajors Taguba, der aus dem Schlamassel im Bagdader Gefängnis Abu Ghoraib lediglich drei Männer lobend herausgreift. Einer ist Stabsfeldwebel William Kimbro, ein Militärhundeführer der Marine: "Er kannte seine Pflicht und verweigerte die Teilnahme an unrechtmäßigen Verhören trotz erheblichen Drucks vom MI (Militärgeheimdienst) in Abu Ghoraib."
Das Ansehen von US-Präsident George W. Bush schwindet durch die Vorkommnisse zusehends ist auf einen Tiefpunkt gefallen. Nur noch 46 Prozent der Bürger sind zufrieden mit Bushs Amtsführung, weniger als je zuvor.
Im Auftrag von CNN und der Tageszeitung "USA Today" hatte das Meinungsforschungsinstitut Gallup rund 1000 Amerikaner über ihre Meinung zu Bush und dem Irak-Krieg befragt. Waren im April 2003 noch 70 Prozent mit Bushs Amtsführung zufrieden, im Januar 2002 sogar 84 Prozent, gaben 51 Prozent der Befragten Bush jetzt schlechte Noten. 54 Prozent glauben inzwischen, dass der Irak-Krieg sich nicht gelohnt hat - so viele wie nie zuvor. Auch die Zustimmung zum Krieg sank auf den neuen Tiefstwert von 44 Prozent.
Der Präsidentschaftskandidat John Kerry kann von dem schwindenden Vertrauen allerdings nicht profitieren. Für den Demokraten als Präsidenten sprachen sich 47 Prozent aus, vergangene Woche waren es noch 49 Prozent. Bush möchten 48 Prozent der Amerikaner weiter als Präsidenten sehen. Der gleiche Anteil glaubt zudem, dass der amtierende Staatschef mit der Situation im Irak besser zurechtkäme, nur 45 Prozent nehmen dies von Kerry an.
Unterdessen wird auch bekannt, welche Strafe die Foltersoldaten erwarten können. So erhält der Stabsgefreite Jeremy Sivits am 19. Mai im ersten US-Prozess zu den Misshandlungen irakischer Gefangener ein so genanntes besonderes Militärstrafverfahren. Der Militärpolizist, der bis zu seiner Suspendierung im Januar Wachsoldat im berüchtigten Trakt 1-A des Gefängnisses Abu Ghoreib war, kann in einem solchen Verfahren wegen Fehlverhaltens aus dem Militärdienst entlassen werden.
Außerdem droht ihm eine Freiheitsstrafe von maximal einem Jahr, wie eine amerikanische Militärjuristin in Bagdad erläuterte. Bei einem allgemeinen Militärstrafverfahren drohen hingegen unehrenhafte Entlassung aus dem Militärdienst und eine Verurteilung bis hin zum Tode.
Sivits ist wegen der Misshandlung von Gefangenen, wegen Verschwörung zur Misshandlung von Gefangenen und wegen Verfehlung im Dienst angeklagt. Sein Prozess soll in der "Grünen Zone", dem abgeschirmten und schwer bewachten Areal der US-Besatzungsverwaltung, stattfinden. Er ist öffentlich und kann bis zu zwei Tage dauern, Journalisten sind zugelassen.