stern-Chefredakteur "Ein Stück Zeitgeschichte" – Gregor Peter Schmitz über den aktuellen stern

Das Cover des aktuellen stern
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© stern
Der neue stern zeichnet das Protokoll einer Zeitenwende. Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges beschreiben deutsche Spitzenpolitiker, wie sie die Tage des Kriegsausbruchs erlebten.

Wer den Mächtigen dieser Welt lange genug zuhört, spürt vor allem eines: dass all ihre Macht endlich ist. Sie wissen, wie nah sie an der Grenze zur Ohnmacht balancieren. Die Münchner Sicherheitskonferenz bot dafür gerade wieder Gelegenheit: Da waren alle Insignien der Macht zu bestaunen, die Wagenkolonnen, mit denen US-Vizepräsidentinnen ganze Münchner Stadtteile lahmlegten, die Galadiners, die Wortgirlanden, auch jene viel beschworene "Einigkeit des Westens" gegen den Aggressor namens Putin. Kanzler Olaf Scholz trat gar plötzlich als ein wild entschlossener Panzerlieferant auf.

Doch eigentlich zog sich durch die Konferenz eine große Verunsicherung: Wie lange dauert der Krieg noch? Was kann der Ausweg sein? Gilt bald wieder einfach das Recht des Stärkeren, des Brutaleren? Und was heißt das eigentlich: Zeitenwende?

Es ist eine Erschütterung, die noch lange nachwirken wird, übrigens auch in der Bundesrepublik. Wie sehr sich diese davon immer noch erholen muss, hat unser Politik-Ressort in intensiven Gesprächen mit zahlreichen Mächtigen der deutschen Politik und Gesellschaft für diese Ausgabe nachgezeichnet. Es ist aus meiner Sicht ein Stück Zeitgeschichte geworden.

Gregor Peter Schmitz: "Die Sicherheitspolitik ist endlich weiblich geworden"

Die Russen, auch die Iraner, durften bei der Sicherheitskonferenz nicht dabei sein, sie sollten nur zuhören, nicht propagieren können. Wie lange wird China dort noch dabei sein? Der wichtigste Außenpolitiker der Volksrepublik sprach zwar in München, er spottete etwa über den amerikanischen Abschuss eines mutmaßlichen chinesischen Spionageballons und bestand darauf, man solle sich in die Angelegenheiten anderer Staaten nicht einmischen. Auf diesem Satz beharren jene Länder gern, die in ihren inneren Angelegenheiten so gar keine Macht abgeben wollen. Aber die anderen machten klar, dass China der nächste große Gegner sein könnte. Hinter den Kulissen warnten die Amerikaner die Chinesen sehr eindringlich davor, Waffen an die Russen zu liefern.

Unsere Abkoppelung von russischer Energie war schwierig und schmerzhaft. Wie schwer würde uns die Abkoppelung vom autokratischen China fallen? Jedes dritte Auto verkaufen die deutschen Autobauer dort; die Produktivität des Landes ist atemberaubend hoch. "Es gibt keinen Streik bei uns", sagte ein Konferenzteilnehmer aus dem Reich der Mitte stolz – der Flughafen München hingegen wurde am Freitag kräftig bestreikt. Rund 150 Millionen chinesische Touristen warten nur darauf, die während der Corona-Isolation angesparten Milliarden auszugeben. Zu derlei Zahlen sah man in München viele Geschäftsleute im Publikum kräftig nicken. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron übrigens fährt schon bald nach China, natürlich mit einer großen Wirtschaftsdelegation.

Im vergangenen Jahr sorgte mein geschätzter Journalisten-Kollege Michael Bröcker mit einem Bild für Aufsehen, das ein Mittagessen mit Vorstandschefs am Rande der Münchner Konferenz vor einem Jahr zeigte: alles Männer, keine einzige Frau. Dieses Jahr konnte nicht nur Bröcker konstatierten, dass so gut wie alle Paneldiskussionen paritätisch besetzt waren. Auch die Sicherheitspolitik ist endlich weiblich geworden. Und in einer Diskussion über die Lage im Iran fiel der vielleicht beste Satz der Konferenz: Wenn Frauen die Revolution einleiteten, dann sei das verdammt ernst zu nehmen – denn Frauen machten in Sachen Revolution keine halben Sachen.

Erschienen in stern 09/2023