Anzeige
Anzeige

Balkanroute Wie das Flüchtlingsdrama in Griechenland eskaliert: Bis die Flasche platzt

Seit Jahresbeginn wurden in Griechenland über 100.000 Neuankömmlinge registriert. Durch die Schließung der mazedonischen Grenze ist Hellas zu einem riesigen Aufnahmelager mutiert. Freiwillige und Hilfsorganisationen fühlen sich vom Staat im Stich gelassen.
Von Ferry Batzoglou

Die hübsche Hafenpolizistin, blaue Uniform, schwarze Stiefel, Pferdeschwanz, rückt noch einmal ihre Kappe zurecht, bevor sie auf die "Ariadne" blickt, die gerade umdreht, um mit dem Heck am Kai E 2 anzulegen.

Es ist 6:57 Uhr in der Früh an diesem kühlen Freitagmorgen, als die "Ariadne" im Hafen von Piräus ihre Fracht ausspuckt. Zunächst die Menschen, dann ein paar Autos, schließlich Brummis. Ein paar Griechen verlassen zuerst das Schiff. Es folgen Hunderte, die anders aussehen.

Es sind junge und alte Männer, junge und alte Frauen, die meisten mit Kopftüchern, viele Kinder, einige barfuß. Flüchtlinge, die dem Krieg in ihrer Heimat entronnen sind. Sicher, andere sind das wohl eher nicht. Aber alle tragen oder schieben alles, was sie mitgebracht haben: Kleider, Decken, Kinderwagen.

Der junge Afghane will von Athen nach Deutschland

Er sei Afghane, 17 Jahre alt, sagt Murtaza. Das Erste, was er hier im Hafen von Piräus tut: Eine griechische Sim-Karte für sein weißes Smartphone kaufen. "Schau bitte !" Eine Facebook-Seite habe er auch. Dies sei "sehr wichtig" für die Kommunikation, so Murtaza.

Sein kleiner Bruder sei das, hier seine Mutter, da sein Vater. Alle lächeln. Nein, nein, er und seine Familie würden nicht hier im Hafen bleiben. "Wohin geht’s, Murtaza?" Der junge Afghane ganz spontan, als sei er in der Vier-Millionen-Metropole Athen schon lange daheim: "Zum Viktoria-Platz." Von dort wolle er dann zur griechisch-mazedonischen Grenze - und von dort nach Deutschland. 

Griechenland, das war bis vor Kurzem noch ein Transitland für den nicht abebbenden Flüchtlings- und Migrantenstrom aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderswo. Mehr als 850.000 Menschen kamen im vorigen Jahr über die Türkei nach Hellas, um ihren mühsamen Weg vor allem über die berühmt-berüchtigte Balkanroute nach Mittel- und Nordeuropa fortzusetzen.

Seit Jahresbeginn zählt Hellas weit mehr als 100.000 Neuankömmlinge - ein Rekord. Ob auf Lesbos, Chios, Samos, Leros oder Kos: Nur ein starker Wind in der Ost-Ägäis lässt den Flüchtlingsstrom an manchen Tagen schlagartig versiegen. Bis er wieder anschwillt. 

Fakt ist: In den vorigen Tagen wehte nur eine sanfte Brise in der Ost-Ägäis. Doch die Grenze Griechenlands zum Nachbarland Mazedonien ist nun plötzlich dicht, die Balkanroute ist gesperrt. Die unweigerliche Folge: Griechenland mutiert vom Transitland zu einem riesigen Aufnahmelager - gegen seinen Willen, gegen den Willen aller Flüchtlinge und Migranten

Griechenland: "Der Hafen der Flüchtlinge"

Wie viele gerade in Hellas ausharren, weiß niemand genau. In Idomeni, einer 120 Einwohner zählenden Ortschaft an der griechisch-mazedonischen Grenze, warten derzeit rund 14.000 Flüchtlinge in einem riesigen Zeltlager auf eine Grenzöffnung. Und es werden immer mehr. Die Athener Regierung spricht von landesweit aktuell 33.000 Flüchtlingen und Migranten, die in Griechenland mittlerweile gestrandet sind – Tendenz stark steigend. Griechenlands Rotes Kreuz schätzt die Zahl der in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge und Migranten hingegen schon auf 50.000.

Fest steht: Mehr als 3000 Flüchtlinge und Migranten sind es mittlerweile in Piräus, im "Hafen der Flüchtlinge“, wie ihn die Griechen nun nennen. Die Neuankömmlinge schlafen in den Passagierterminals an den Kais E 1, E2, E3 und E7 oder neuerdings in einem Lagergebäude hinter Kai E 2. Manche müssen unter freiem Himmel campieren. Wer Glück hat, hat wenigstens ein Zelt.

Die Neuankömmlinge sind nicht alleine. Im Gegenteil. Hunderte griechische Freiwillige, Mitarbeiter von einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen und sonstige Helfer aus aller Welt geben sich hier ein Stelldichein.

Sie kochen, sie verteilen Lebensmittel und Getränke, aber auch Kopftücher und Windeln, sie behandeln Kranke – und dies im Schichtbetrieb fast rund um die Uhr.

Aber es gibt auch ganz andere Aktionen: Eine Gruppe verteilt gerade vor der Wartehalle E 2 Flyer an Flüchtlinge und Migranten. Auf den Flugblättern sind Hammer und Sichel abgedruckt, darunter ein Text auf Arabisch.

Ein junger Grieche, kurzes Haar, pechschwarzer Bart, erklärt: "Wir sind von der Kommunistischen Partei Griechenlands. Wir weisen auf die Ursachen ihrer Flucht hin: Die imperialistischen Kriege des Westens im Nahen Osten."

Mit fester Stimme sagt der Kommunist: "Unsere Botschaft ist: 'Die griechische Arbeiterklasse ist bereit, vereint mit den Flüchtlingen den Kampf gegen die Kapitalisten und den Kapitalismus, der diese Kriege produziert, zu führen.'"

Mit der Politik, geschweige denn der großen, hat Georgios Alexiou hingegen nichts am Hut. Alexiou, 63, gelbe Weste, Rentner, früher Bankangestellter, steht hinter dem Passagierterminal E 1. Hier kommen zentral alle Sachspenden für die Flüchtlinge und Migranten im Hafen von Piräus an.

"Wir erhalten alles, was diese Menschen zum Überleben brauchen. Wir Griechen warten nicht auf den Staat, bis der was tut. Wir packen jetzt an und helfen, wo wir nur können. Und wissen Sie, wer besonders hilfsbereit ist: Die eher armen Griechen", sagt Alexiou. 

Stern Logo

"Willkommen im Libanon!"Mit diesen Worten begrüßt Nikitas Kanakis, Griechenland-Chef von "Ärzte der Welt", den Besucher. Der Mann muss es wissen: Kanakis war schon oft in Krisengebieten im Nahen Osten, aber auch in Afrika."Der griechische Staat ist hier im Hafen nicht präsent. Ob Freiwillige oder Hilfsorganisationen: Wir bestimmen, wir agieren ganz alleine. Wären wir nicht da, hätten wir hier schnell eine humanitäre Katastrophe."

Mustafa, ein Syrer, fährt mit einem Kleinwagen vor. Er sei vor 35 Jahren zum Studium nach Griechenland gezogen. Er macht den Kofferraum auf. Seine Fracht: Kondensmilch, Kekse, Croissants. Ein paar Augenblicke später verteilt er sie an seine Landsleute. "Wäre ich als junger Mann nicht hierher ausgewandert, wäre ich nun in ihrer Situation." Mustafa stehen die Tränen in den Augen, als er das sagt.

Ein großer Mann, im Rollstuhl sitzend, zittert am ganzen Körper. Ein Stromkabel sei nach einer Bombadierung in seiner Heimatstadt in Syrien auf ihn gefallen, er habe einen Stromschlag erlitten, erzählen die Leute, die um ihn stehen. Er hoffe, dass er in Deutschland behandelt werden könne, eine bessere Zukunft haben werde. Mustafa, der diesmal übersetzt, ringt sichtlich um Fassung.

Viktoria-Platz: Warten auf den Schlepper

Ein paar Kilometer weiter tummeln sich auch an diesem Abend wieder Hunderte Afghanen auf dem Viktoria-Platz, mitten in der Athener Innenstadt, aber etwas abseits der üblichen Touristenpfade. Ob Jung oder Alt: Sie liegen auf dem Boden, sie sitzen auf den Bänken, sie plaudern im Stehen. Und alle warten auf Schlepper.

Murtaza und Co. sind schon längst hier. Die Fahrt mit der Elektrobahn von Piräus bis zum Viktoria-Platz dauert nur 20 Minuten. Murtaza hält sein weißes Smartphone in der Hand. Was will Murtaza jetzt machen? Die Grenze nach Mazedonien ist zu. "Ich weiß. Vielleicht wird sie ja aber wieder geöffnet, wenn wir hier bald sehr viele sind." Wollen sie zurückkehren? "Nein. Wir haben uns nicht auf den Weg gemacht, um nun wieder zurückzukehren. Wir sind jetzt in Europa. Wir warten erst einmal." Es beginnt heftig zu regnen. Murtaza eilt unter einen aufgespannten Schirm vor einem Cafe.

Ein Bus der Athener Verkehrsbetriebe fährt vor den Viktoria-Platz. "Sonderfahrt" steht auf Griechisch darauf. Der Bus füllt sich in Windeseile, aber nur mit Afghanen. Wer will, kann diesen Bus nehmen, um in ein Flüchtlingslager im Athener Vorort Hellenikon zu fahren. Das simple Motto: Wenigstens ein Dach über dem Kopf haben!

Das ist aber schon alles.

In einem heruntergekommenen Gebäude auf dem Gelände des alten Flughafens, der schon seit 15 Jahren außer Betrieb ist, sind mehr als eintausend Flüchtlinge und Migranten untergebracht. Das größte Problem: Die komplett fehlende Entlüftung. Fenster, die geöffnet werden könnten? Fehlanzeige. Der Geruch ist unerträglich. Krankheiten breiten sich aus, auch viele Kinder sind erkrankt. Kanakis, der Arzt, sagt: "Wir sind gestern aus dem Gebäude in Hellenikon raus - aus Protest. Das Behandlungszimmer ist nur neun Quadratmeter groß – ohne jegliche Entlüftung. Wir haben einen Beschwerdebrief an die Athener Regierung geschickt. Wir wollen nicht dafür mitverantwortlich gemacht werden, wenn hier eine Epidemie ausbricht."

Sauer ist auch Andreas Kondylis, 37, Sakko. Er steht just vor jenem Horrorgebäude. Der Bürgermeister, in dessen Stadtgebiet das Flüchtlingslager liegt, findet die Zustände auch unhaltbar. "Das ist ein Ghetto. Das kann und darf keine Dauerlösung sein. Außer leeren Versprechungen seitens der Athener Regierung, wonach dauerhaftere Lösungen gefunden werden sollen, haben wir aber bisher nichts gehört." 

Stern Logo

"Ist das nicht eine Schande für Griechenland?"

Ist das nicht eine Schande für Griechenland, Herr Bürgermeister? "Das ist eine Schande für Griechenland, aber auch für Europa", sagt Kondylis. "Ich schäme mich als Grieche, aber auch als Europäer."

Jannis Mouzalas, seit September Athens Migrationsminister, hat derzeit wohl den schwierigsten Job der Welt. Man sieht es ihm an diesem Samstagmorgen an. In Mouzalas' Büro im vierten Stock eines schmucklosen Geschäftsgebäudes am Athener Klafthmonos-Platz hängt die griechische Nationalfahne, aber auch die EU-Flagge. Die klassische Frage, die Mouzalas derzeit von allen Seiten hört: Bei welcher Zahl an gestrandeten Flüchlingen und Migranten in Hellas, das ohnehin seit dem faktischen Staatsbankrott im Frühjahr 2010 in der Dauerkrise steckt, droht der Kollaps? Der Minister weicht aus: "Wir haben jetzt gut 30.000. Wenn es 50.000 werden, werden wir Unterbringungsmöglichkeiten für 50.000 schaffen. Wenn es 70.000 werden, dann eben für 70.000." Und so weiter? "Nein." Es gebe eine Grenze der Belastbarkeit, so Mouzalas. Er warnt: "Die Flasche wird platzen. Ich weiß nicht genau, wann. Aber die Flasche wird zersprengt, sie wird implodieren. Sie kennen das Phänomen des Flaschenhalses. Kommt immer mehr und mehr und mehr rein in die Flasche, dann sprengt das die Flasche."

Die Grenzschließungen auf der Balkanroute verurteilt Mouzalas aufs Schärfste."Ich bin Gynäkologe. Manche sagen, ich sei ein guter. Mein Beruf ist es, ein Menschenleben gesund auf die Welt zu bringen. Ich kann jetzt nichts anderes empfinden als Wut und Trauer." Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erahnen, auf wen er wütend ist - und für wen er Trauer empfindet.

Wie auch immer: Wenige Stunden nach dem Gespräch mit Mouzalas räumt die griechische Polizei den Viktoria-Platz in Athen. Die Afghanen müssen nun woanders schlafen.

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel